SHMF 2004: Agon Ensemble – „Prague versus New York“
Die Kinder fressen ihre Avantgarde
Das SHMF-Sonderkonzert „Prague versus New York“ zeigte auf Kampnagel skurrile Anti-Avantgarde-Konzepte.
Sind die Instrumente schlecht gestimmt oder spielt hier eine Schülerband? Nein, das soll so! Der tschechische (Anti-) Avantgardist Martin Smolka hat sein Werk „Euforium“ mit der Vortragsbezeichnung „Klingt bitte wie ungeübte Amateure!“ überschrieben. Der minutiös folgend mimt das Prager Agon Orchestra unter der Leitung von Petr Kofron in der Hamburger Kampnagelfabrik mit diebischer Spielfreude ein nicht mehr ganz funktionstüchtiges Orchestrion, das jemand auf der Kirmes vergessen hat.
Smolka hat noch mehr Frechheiten gegen die „Kunstmusik“ auf Lager. Eine „hässlich gewordene Schönheit“ sei die Avantgarde, eine „Kunstfurzerei“. Dagegen „furzt“ er jetzt an, mit kindlich übermütigem Getröte des Euphoniums und schepperndem Getrommel. Doch zu durchorganisiert ist die Komposition, als dass sie als bloßer musikalischer Scherz durchginge. Vielmehr frisst nicht nur in diesem Beitrag zum Agon-Programm „Prague versus New York“ nicht die Avantgarde ihre nachgeborenen Kinder, sondern umgekehrt kanibalisieren die ihre Avantgarde mit dem Genuss der Normverletzung an einer Musik, die doch selber Normen überschritt, aber das in den schon lange vergangenen 60ern.
Ebenso provokant gegen die eigenen kompositorischen Geburtswehen geht Michal Nejtek in seiner „Distress Sonata“ vor. Zu geradezu unartigen Zitatfetzen, als liefen Barock bis Rock durch ein zu schnell laufendes Tonbandgerät, wird ein Video-Clip projiziert, den der Regisseur Bohus Ziskal auf Nejteks Musik gedreht hat. Die Aleatorik veralbernd pickt ein mechanischer Spatz die Noten auf die Blätter und nach dem Notentext werden wiederum Lottoscheine ausgefüllt. Dazu eingeblendet Sätze aus Adornos „Ästhetischer Theorie“: „Kunst will das, was noch nicht da war, aber sie ist, was schon da war.“
Unerneuerbare Endzeitstimmung im alten Prag, einer der Wiegen der europäischen Avantgarde? Am Hudson statt der Moldau fressen auch John Zorn und Steve Reich ihren Mutterkuchen. Zorn zappt durch seinen musikalischen Zettelkasten, spielt in „For Your Eyes Only“ skurril wie die Tschechen disparate Zitate von Strawinsky bis Heavy Metal einem imposanten sinfonischen Entwurf zu. Während Reich in „City Life“ zwar den Minimalismus über Bord wirft, aber dafür erneut die Frage stellt, ob nicht jedes Geräusch schon Musik sei. Das ist dann wieder ganz old schoolig avantgardistisch: Man muss eben – wie Medea ihre Kinder – das junge Alte fressen, verdauen und dann wieder ausscheiden, um zum Neuen zu kommen – in Prag genauso wie in New York. (jm)