Die Illusion desillusioniert sich
Berlinale 2003: Ein Versuch, rote Fäden zusammenzubinden
Zitate, die hängen bleiben: „Ich überlebe, indem ich jemanden töte, der ich selber bin“, raunt es zwischen den in warmes Blau und kühles Rot getauchten Bildern von „Solaris“. Darin geht es um kopfgeborene Geister, die so unglaublich real sind wie sonst nur im Film – und deshalb bedrohlich, zumindest verstörend. Ein paar Szenen später in nämlichem Film ist von „der Sehnsucht der Geister zu verschwinden“ die Rede. So sind beide Opfer und Täter zugleich, die Bilder wie diejenigen, die sie in ihren Köpfen produzieren. Angedeutet ist damit ein roter Faden, der sich bei der diesjährigen Berlinale durch viele Filme spinnt: Die Geister, die wir riefen, ringen mit uns, den Rufern – und sie führen sich selbst aufs Schafott der Desillusionierung, mit uns an der Hand.
Genug der Metaphern, die kommen als Filmbild eindringlicher daher. Die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Illusion war dem Medium Film von Anbeginn immanent, auf der Berlinale 2003 wird sie erneut und vielgestaltig gestellt. Jeder, der ins Kino geht, weiß, dass er nichts als eine Illusion, eine Täuschung sieht. Rein physikalisch betrachtet beruht die auf der Trägheit des Gesichtssinns, mehr psychologisch betrachtet auf der Multitasking-Fähigkeit des Gehirns, drei Geschichten gleichzeitig zu folgen, sprich sich zu zerstreuen und gerade daran Freude zu finden. „Das Leben ist nicht kompliziert, es ist komplex“, sagt „Jonny Vang“ in der gleichnamigen norwegischen Groteske (Jens Lien), die im Panorama lief. Und dieser Komplexität will Film wieder voll Rechnung tragen. Einfach Geschichten zu erzählen war gestern, heute sollen wir hinter deren Kulissen schauen. Was hält die Welt im Innersten zusammen, besser: was die Geschichten?
„The Making of“ ist der Film
In „Adaptation“ schießt solcher Versuch, einen „On screen“-Einblick in die Entstehung eines Drehbuchs für den Film zu geben, den wir gerade sehen, zwar gewaltig über das Ziel hinaus, aber das „Setting“ für ein in den Film eingemeindetes „The Making of“ ist doch beachtlich. Selbstbezüglichkeit auf der bislang höchsten gesehenen Ebene der Verschachtelung. Etwas weniger geschraubt spielt schon der Eröffnungsfilm „Chicago“ mit dem Topos, dass Wirklichkeit „nur“ ein Produkt sei, etwas Geschaffenes, nicht etwas einfach Vorhandenes. Die Pressemeute am Rande der Starparade in Gestalt von Marionetten zu inszenieren, den Star als Püppchen, dem ein Bauchredner Stimme verleiht, ist eine der stärksten Szenen, die man auf dieser Berlinale sehen konnte.
„Chicago“ entlarvt das „No Business like Show-business“ in opulenter Bilderflut, der man die Ironie allerdings weniger glaubt als die Absicht, einen guten Revuefilm zu machen. „Confessions of a dangerous Mind“ geht noch einen Schritt weiter. Darin bemüht Regiedebutant George Clooney, selbst ein Kind der TV-Serie, die Authentizität der „wahren Geschichte“ des Game-Show-Erfinders Chuck Barris. Der war nicht nur ein Meister im Herunterschrauben des TV-Niveaus, sondern auch als CIA-Serienkiller. 33 hat er auf dem Gewissen, so tippt er in der Rahmenhandlung in seine bekennende Schreibmaschine. Und wieviele TV-Shows …? Mal eben aufaddieren – „in mind“ das Zitat aus „Solaris“: „Ich überlebe, indem ich jemanden töte, der ich selber bin.“
Das alles wiegt schwer und liegt noch schwerer auf der faustischen Festivalseele. Gut, dass es noch Forumsbeiträge gibt, die diesen roten Faden bunter variieren. „Teknolust“ ist so ein digitales Wunder (und echter Geheimtipp), nicht nur technisch. Tilda Swinton vierfach, als Gen-Wissenschaftlerin und ihre drei Clone, in Szene zu setzen, das muss erst mal jemand nachmachen. Wo sich im Mainstream-Kino die Sujets clonen, sind es hier die Figuren. Und das Beglückende daran: Sie sind eben nicht alle gleich.
Heimat – kein Ort, eher das Nirgends der protestierenden Fantasie
Mit „Teknolust“ halten wir auch gleich den zweiten roten Faden der Berlinale in Händen. Wenn die Welt voller illusionistischer Gefahren ist, wie setzt man sich dann in ihr in Szene, könnte die Frage lauten. Oder auch: Wo ist ein Ort, den man Heimat nennen könnte? „Teknolust“ erzählt nicht nur von der Wirrnis, welche die Illusion existent zu sein auslöst, sondern auch davon, wie man „erwachsen“ werden kann inmitten dieser Wirrnis, die nicht nur von der Leinwand weht, sondern auch im so genannten wirklichen Leben.
In Forum und Panorama beschäftigen sich mehrere Filme mit diesem Problem und dabei spielen Kinder oft eine Hauptrolle. Die Kindheit ist ein Raum produktiver Illusionen. Kinder sind sozusagen filmisch, weil sie in ihrer noch unverstellten Fantasie Welten erschaffen, an die sie wirklich glauben, die somit gegen die „wirkliche Wirklichkeit“ ein protestierendes Potenzial entfalten. Insofern ist Film vice versa auch kindlich – im positiven Sinne. Sowohl „Flower & Garnet“ (Keith Behrman) als auch „Pure“ werfen Kinder-Protagonisten mitten ins Chaos einer Welt, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. In „Flower & Garnet“ ist es der Verlust elterlicher Vorbilder, also muss man sich eigene suchen und wird dabei – schmerzlich zwar, aber doch – erwachsen. In „Pure“ ist es die Hölle der Drogen, in der das Kind der rettende Strohhalm ist, für die Filmgeschichte wie für die Figuren.
Nicht anders in „Kamchatka“, wo die Kinder mehr wissen als man ihnen zutraut und, weil sie der revolutionären Kraft der Fantasie vertrauen, sowieso mehr als die tapfer kämpfenden Erwachsenen. Auch in dem deutschen Wettbewerbsbeitrag „Good bye Lenin!“ tritt ein Sohn als Retter eines vergangenen Geborgenheitsraumes auf, grotesk zwar, aber doch so liebenswert wie Märchen von fremden Ländern und Menschen nun mal sind.
Die Wirklichkeit steht (im) Kopf
Als Resümee aus beiden roten Fäden könnte man die nicht neue Erkenntnis ziehen, dass die Wirklichkeit nicht da draußen ist, sondern in unseren Köpfen. Für die Wirklichkeit vielleicht nicht – nur wenige Filme auf der Berlinale waren explizit politisch – aber für das Kino ist das eine tröstliche Einsicht. Es kann sich weiter darauf verlassen, dass es uns eher Gegenwelten als bloß Weltabbilder liefert und damit jene jenseitige Funktion hat, die das Diesseits braucht. Um sich illusionistisch zu desillusionieren, oder auch um zu überleben, indem man jemanden tötet, der man selber mal war – und damit erwachsen zu werden. (jm)