Denen ihr Spiel spielen

Abendfüllender Experimentalfilm der Kieler Filmgruppe Chaos und weiterer internationaler Filmexperimentatoren hat Premiere

Filmrollen en masse türmen sich in einer Kiel-Elmschenhagener Werkstatt-Wohnung hinter dem Schneidetisch von Karsten Weber und Martina Stache, Kern der mittlerweile 25 Jahre agierenden Filmgruppe Chaos. Sammeln von “found footage” zwecks Recycling in neuer Montage ist seit langem das Credo der Experimentalfilmer, die mit ihren multimedialen Projektionen (unter anderem in Kieler Bunkern und Hamburger Fabrikhallen) inzwischen auch in der Kunstszene reüssieren. Mit ihrem neuen Opus, dem man getrost den Zusatz “magnum” – als Sigle für “groß”, aber auch für das gleichnamige Schussgerät – beigeben darf, haben sie und diverse weitere Filmemacher (darunter die koproduzierende Bremer Filmgruppe AKAS – “Alles könnte anders sein” – und eine lose Kooperation mit der international organisierten “Copyright Violation Squad”, woraus eine Kinobuchung im kanadischen Vancouver resultierte) die experimentelle Schraube noch eine Windung weiter gedreht. “Faites vos jeux” (“Machen Sie Ihr Spiel”, sagt der Groupier am Roulette-Tisch, bevor “nichts mehr geht”), der ca. 90-minütige Montagefilm, der am Sonntag, 23. Juni, 11 Uhr im Kieler “Neuen Studio” Premiere feiert, ist ein “Film ohne Kamera”, das heißt er besteht ausschließlich aus vorgefundenem, wenn auch bewusst zusammengestelltem Material.

Schon mit dem Kurzfilm “Notwehr” haben die Chaos-Filmer einen solchen Montagefilm vorgelegt, der die für einen italienischen Demonstranten tödlich endenden Ereignisse beim Weltwirtschaftsgipfel in Genua 2001 pointiert und mit eindeutiger politischer Parteinahme kommentiert. Jetzt versucht man den großen geschichtlichen Bogen, der von den 70er Jahren bis heute spannt. Entlang der lockeren Rahmenhandlung des Leidenswegs eines Dichters, der sich am Ende – auch das authentisches Material – bei einer Lesung vor laufender Kamera erschießt, erzählt “Faites vos jeux” die Geschichte der letzten 30 Jahre. Das Material reicht dabei von indischen Schmachtfetzen, die Karsten Weber als ausgemusterte Leihvideos in einer Londoner Videothek ergatterte, über das Trash-Videoarchiv eines Bremer Fotohändlers, der, so Weber, “das Schrecklichste aus dem TV sammelt”, bis zu zeittypischen Werbefilmen und Doku-Ausschnitten, zum Beispiel auch von den Flugzeugattacken des 11. Septembers.

Ein überdimensionaler Videoclip ist bei der Konglomeration dieser verschiedenartigen Rohstoffe entstanden, “monumentaler als geplant”. Doch die aufwändige Montage auf S-VHS, DV und am Computer, wobei die Chaos-Filmer getreu ihrem Trash-Konzept “besonders billige Video-Trick-Mixer und Freeware-Computerprogramme” einsetzten, reichte noch nicht. 18 Avantgarde-Musiker aus der Elektro-Szene von Deutschland (Xyramat, Ulrich Schnauss und DJ AMOK) über Istanbul bis Japan vertonten jeweils ca. 4 Minuten des Films. Umkehrung ist dabei das Prinzip, wie Karsten Weber erläutert: “Beim Musikclip macht jemand das Bild zum Ton, hier ist es umgekehrt.” Und auch sonst geht der Film “den bewusst umgekehrten Gang”. Während das fotografische Filmbild auf Zelluloid zunehmend durch sein digitales Pendant ersetzt werde, sei man auch hier entgegengesetzt verfahren: Die alte Super-8-Philosophie im Revival: Analoges Material emanzipiert sich wieder, das Digitale des Schnitts ist allenfalls Hilfsmittel.

Damit ist das Experiment aber noch lange nicht gegessen. Den fertig geschnittenen Film ließen die Chaos-Filmer auf 16 mm “aufblasen”, um nunmehr dem Trägermaterial auf den Leib zu rücken. “Film-Scratching” nennt Weber das Verfahren und das ist wörtlich zu verstehen. Der Schnitt geht mitten in die Filmschicht. Mit Messern, Skalpellen, Chemikalien und mit Filzstiften wurde der Film aufs Neue bearbeitet, wiederum in Stücken, an denen verschiedene Experimentatoren “sich vergingen”.

Das derart malträtierte Material (schon im vorhergehenden Kollaborationsfilm “Maldoror” (2000) konnte man sich von den Qualitäten solcher Verfremdung überzeugen) läuft, wie sich denken lässt, durch keine Kopierwerksstraße. Die daher nötigen hohen “handwerklichen” Kopierkosten förderte die Kulturelle Filmförderung S.-H.

Mit dem Filzstift am Material: Karsten Weber und Martina Stache (Foto: jm)

Zum Zeitpunkt des Interviews mit Karsten Weber, Ende Mai, ist der Film keineswegs fertig. “Wir haben eine Deadline am 6. Juni”, raunt Weber und man kann sicher sein, dass auch noch in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni an dem Werk gefeilt wird, buchstäblich. Das ist Credo und “Politik” der Experimentalfilmer und gehört dazu wie “die deutlich politische Aussage” des Films. Ein revolutionäres Werk? Karsten Weber lächelt viel-, aber nichts dazu sagend. Selber schauen, am 23. Juni auf die Leinwand im “Neuen Studio” in Kiel! (jm)

Premiere am 23. Juni, 11 Uhr im Kino “Neues Studio”, Kiel, Dreiecksplatz.

Beteiligte FilmemacherInnen: Boris Zaweah Ftentzel-Beyme (HH), Karsten Weber (KI), Lepke B. (London), Martina Stache (HB), Reinhard Bräuer (HB), Er Es (HB), Sebastian Schneidereit (KI), Tim Peters (München)

Beteiligte MusikerInnen: ACT (France), amok (HH), Arturas Bumsteinas (Littauen), Contolled Weirdness (London), Deadly Buda (USA), Der Müde Mann (KI), Didgemaster Philth (Australien), Ulrich Schnauss (etheral 77) (Berlin), Flexible (Edinburgh), Haax (KI), Hänt (HH), Heimkind (HH), Lepke B. (London), Lukasz Szankiewicz (Polen), Serhat Koksal (Istanbul), Toshihira Hiraoka (Japan), Voodoo Muzak (France), Xyramat (HH)

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