Imaginative Bedrohung
Kamchatka (Marcelo Piñeyro, Arg./Sp. 2002)
Argentinien 1976. Gerade hat die Militär-Junta geputscht und das Foltern und Morden unter ihren Gegnern beginnt. Um den Schergen zu entgehen, taucht ein Rechtsanwalt mit seiner Familie in einer Finca irgendwo auf dem Land unter. Die Eheleute nehmen neue Namen an und schärfen auch den beiden Söhnen deren Decknamen ein. Harry wählt sich seinen nach seinem Vorbild, dem Entfesselungskünstler Houdini. Mit Lucas verschlägt es noch einen weiteren Regimegegner auf diese kleine Rettungsinsel. Harry freundet sich mit ihm an.
Doch so harmonisch das Familienleben im Versteck anmutet, über ihm hängt das Damoklesschwert der Entdeckung. Hals über Kopf muss die Familie eines Tages fliehen, bringt die Söhne bei den Großeltern in Sicherheit, um nie wieder gesehen zu werden … Was Harry bleibt, ist die Erinnerung an ein Strategiespiel, dass er mit seinem Vater spielte. Das sonst unbedeutende Land Kamchatka hat dabei eine wichtige Funktion – für Harry wird das zur Metapher: “Kamchatka ist der Ort, wo du bist, wenn du Widerstand leistest.”
Bedrohtes Familienidyll – Cecilia Roth, Ricardo Darin, Matias del Pozo
Marcelo Piñeyros Film zeichnet aus der Perspektive von Harry das Porträt einer Familie, in der trotz äußerer Gefahr Harmonie und gegenseitige Zuneigung herrschen. Gelegentlich gerät es sogar zum Idyll. Doch das liegt fern jeder Romantisierung. Vielmehr steigert der Kontrast zwischen der Familienwelt, die vielfach noch heil erscheint, auch wenn die Kinder längst mehr wissen als die Erwachsenen ihnen zutrauen, und der unberechenbaren, übermächtigen Bedrohung die letztere. Beinahe wie in einem Thriller erwartet der Zuschauer jeden Moment den Zugriff der staatlichen Mordkommandos. Die psychische Gewalt, der sich die Regimeopfer ausgesetzt sehen, wird so für den Zuschauer erfahrbar. Die Gewalt ist strukturell und allgegenwärtig, auch wenn sie nicht mit martialischem Säbelrasseln zuschlägt – schon die Drohung macht sie real.
Wie mehrere Filme auf der Berlinale zeigt auch “Kamchatka” eine aus den Fugen geratene Welt aus der Perspektive von Kindern. Indem sich die Kinder darin behaupten, werden sie einerseits erwachsen, andererseits tragen sie ihre kindlichen Visionen in die Welt, die anders sein könnte als sie ist. (Gudrun Lübker-Suhre)