62. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2012

Karge Seelenlandschaften

„Westerland“ (Tim Staffel, D 2012)

Ein junges, schmales, fast ausgemergelt wirkendes Jungen-Gesicht vor der zersplitterten Eiswüste der Nordsee vor Sylt. Ein eisiger Wind pfeift, der junge Mann stapft über die Eisschollen. Die ersten Bilder „Westerlands“ nehmen ohne Worte die Seelenlandschaft von Jesús (Wolfram Schorlemmer) vorweg: Schroff, eisig, undurchdringlich. Ein gänzlich gegensätzlicher Charakter ist der türkischstämmige Cem (Burak Yigit). In seiner offenen, großzügigen Art lädt er Jesús zu sich in die Neubauwohnung ein, um mit Freunden abzuhängen. Am Morgen danach macht sich Jesús aus dem Staub, nicht ohne vorher noch etwas Geld und Tabak von Cem zu zocken. Doch damit beginnt die Geschichte der beiden erst. Cem sieht Jesús seinen Diebstahl nicht nur nach, es dauert gar nicht lange, und die beiden wohnen praktisch zusammen, hängen vor der Glotze ab und kiffen bis zum Abwinken. Cem vernachlässigt bald nicht nur seine Kumpels, sondern auch seinen Job beim Arbeitsamt. Ein Versuch, Jesús bei seinem Bruder im Restaurant als Küchengehilfen unterzubringen, scheitert gründlich. Jesús gibt sich keine Mühe und steht wenig später unter Diebstahlsverdacht. Doch Jesús belastet nicht nur das Familienverhältnis, auch zwischen den beiden nehmen die Spannungen zu. Jesús interessiert sich außer für Dope für nichts und niemanden. Während Cem von seinen Zukunftsträumen als Landschaftsarchitekt erzählt, scheint der geschichtslose Jesús bereits von der Welt Abschied genommen zu haben.
Eisige Landschaft außen und innen: Burak Yigit und Wolfram Schorlemmer in „Westerland“ (Foto: Berlinale)
Autor und Theaterregisseur Tim Staffel inszenierte sein Kinodebut nach seinem eigenen Roman „Jesús und Muhammed“ (2008) in Westerland auf Sylt. Die windgepeitschte, eisige Dünenlandschaft bildet den fotogenen Hintergrund für dieses Drama um zwei junge Männer, die sich zueinander hingezogen fühlen, aber nicht zusammen passen wollen. Die Frage, die „Westerland“ stellt (und damit korrespondiert der Film mit Ira Sachs Panorama-Beitrag „Keep The Lights On“), lautet: Wieviel Belastung verträgt eine Beziehung, kann jedes Hindernis allein mit der Kraft der Liebe überwunden werden? Beide Filme zeigen Grenzen auf.
Staffel gelingt es durchaus, diesen Konflikt in Szene zu setzen und zu bebildern. Die offene Dünenlandschaft steht in starkem Kontrast zur beklemmenden Enge in Cems Wohnung. Es ist der geschichtslose Totalverweigerer Jesús, der diese Beklemmung herbeiführt. Er sucht zwar nach Nähe, beharrt aber auf seinen Problemen und verweigert jegliche Hilfestellung. Er interpretiert Cems Fürsorge als eine Bevormundung und befeuert damit seine aggressive Abwehrhaltung. Es kommt zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen den Liebhabern.
Diesem Fatalismus auf der Leinwand zuzuschauen, ist mitunter enervierend. Auch bemüht Staffel für die Konfliktverschärfung eine Reihe von Teenager-In-Trouble-Klischees, was nicht besonders einfallsreich ist. Die hervorragend gespielten Figuren bleiben aber glaubwürdig und mit ihnen der Film, der ein realistisches Ende präsentiert. Alles in allem darf man doch zu einem geglückten Leinwanddebut gratulieren. (dakro)
„Westerland“, D 2012, 88 min., Regie & Buch: Tim Staffel, Kamera: Fabian Spuck, Schnitt: Ute Schall, Darsteller: Wolfram Schorlemmer, Burak Yigit, Muri Seven, Jule Böwe u.a.

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