62. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2012

Unvermeidliche Familienbande

„Was bleibt“ (Hans-Christian Schmid, D 2012)

Eigentlich sollte es ein harmonisches Familienwochenende werden: Der junge, in Berlin lebende Autor Mark (Lars Eidinger) besucht mit seinem 5-jährigen Sohn seine Eltern in einem Kleinstadt-Vorort. Mutter „Gitte“ (Corinna Harfouch) versucht, ihre Depressionen mit homöopathischen Therapien in den Griff zu bekommen. Vater „Günter“ (Ernst Stötzner) hat seinen Verlag verkauft und plant eine längere Recherche-Reise in den Mittleren Osten, um endlich sein eigenes Buch zu schreiben. Markos jüngerer Bruder Jakob (Sebastian Zimmler) führt eine schlecht gehende, aber vom Vater finanzierte Zahnarztpraxis in Fußentfernung vom elterlichen Haus. Die etwas angespannte Idylle platzt, als Gitte verkündet, dass sie bereits seit zwei Monaten nach dreißigjähriger Behandlung ihre Antidepressiva abgesetzt hat. Wie Günter will sie noch mal einen neuen Lebensabschnitt beginnen.
Gittes Entscheidung löst Gegenwehr aus, teils aus Sorge um ihre Gesundheit, teils aus Angst, dass ein erneuter Ausbruch alle Beteiligten aus ihrer mittlerweile gewohnheitsmäßigen Fürsorgeposition reißt oder in eine neue hineinzwängt. Über die Jahrzehnte haben sich alle Familienmitglieder in ihren Rollen eingerichtet: Der die Familie versorgende Vater, der pflichtbewusste jüngste Sohn Jakob und Marko, der sich nach Berlin verzogen hat, weil er sein Elternhaus nur noch in kleinen Dosen erträgt. Auf den ersten Blick ist diese Familie eine liberale, emanzipierte. Der Schein trügt: Vater Günter ist bestimmend, meist subtil, teilweise herrisch. Seine – auch finanzielle – Fürsorge ist erdrückend und, wie man später erfährt, auch nicht ohne Eigennutz. Jakob bleibt in der Kleinstadt und lässt sich vom Vater praktisch aushalten, um in der Nähe seiner Mutter zu bleiben, was auch dem Vater entgegenkommt. Die Rücksichtnahme aller auf Gittes Krankheit führt zur Vermeidung und zur Ausblendung jeglicher Konfliktsituationen. Trotz eines scheinbar offenen, antiautoritären Verhältnisses auf Augenhöhe (man spricht sich mit Vornamen an) kann Marko seinen Eltern nicht eingestehen, dass seine eigene Familienbeziehung zerbricht. Wie tief der Abgrund zwischen seinen Eltern inzwischen geworden ist, zeigt sich, als Marko Charles Aznavours „Du lässt Dich gehen“ am Klavier anstimmt und Gitte spontan einstimmt. Ein wenig Familienharmonie vergangener Zeiten blitzt auf, Günter übernimmt die letzte Strophe. Doch Ironie und Ausweglosigkeit der Situation offenbaren sich nach der letzten Note: Womit die Nudeln denn gefüllt seien, will Günter wissen, worauf Gitte ihn bittet, doch vor dem Essen das Hemd zu wechseln. Die Kommunikation ist erstarrt, die Familiensprache hölzern und emotionslos. Das Verständnis für die Lebenssituation der jeweils anderen fehlt, daher lassen sich die eigenen Befindlichkeiten natürlich nur schwer vermitteln.
Angespanntes Familienidyll: Egon Merten (vorn), Picco von Groote, Sebastian Zimmler, Ernst Stötzner,
Corinna Harfouch, Lars Eidinger in „Was bleibt“ (Foto: Gerald von Foris)
Hans-Christian Schmid und sein Drehbuchautor Bernd Lange wollten bewusst einen kleinen Film machen, der das Phänomen eines sich scheinbar auflösenden Generationenkonfliktes und der Entfremdung vom Elternhaus auch in Zeiten vermeintlich offener Familienverhältnisse beleuchtet. Schmid und Lange schöpfen aus Beobachtungen in ihrem Umfeld und beleuchten ein familienstrukturelles Problem der bürgerlichen Mittelklasse der alten Bundesländer Westdeutschlands. Sie verzichteten auf das große, dramatische Konfliktpotential, das beispielsweise einen Film wie „Das Fest“ (Thomas Vinterberg, DK 1998) bestimmt. Ohne einen starken Wendepunkt kommt ihre Erzählung allerdings auch nicht aus. So gerät der psychologische Schwelbrand zum Waldfeuer, als Gitte plötzlich verschwindet und nur ihr Auto gefunden wird. Die aufgestauten Aggressionen der Zurückgelassenen entladen sich heftig.
Das Familiendrama „Was bleibt“ wird nicht jeden Zuschauer in den Bann ziehen, zu spezifisch sind die Situation und das Milieu. Interessant bleibt aber die Frage, ob das Konstrukt „Familie“ heute überhaupt eine Chance hat, Jahrzehnte zu überdauern. Sind familiäre Abhängigkeiten und Schuldverstrickungen unvermeidlich? Das ist möglicherweise nicht das Thema, dem sich Hans-Christian Schmid in seinem vierten Wettbewerbsbeitrag – nach „Lichter“ (D 2003), „Requiem“ (D 2006) und „Sturm“ (D 2009) – bewusst gestellt hat. Den Schluss, den man aus „Was bleibt“ aber ziehen muss, ist pessimistisch und eine Absage an die Familie als Fixpunkt in den sich stetig verändernden Biografien ihrer Mitglieder. Trotzdem bleibt sie ohne Alternative. Ein diametral entgegengesetzter Entwurf zur Hypothese aus Schmids Kinoerstling „Nach Fünf im Urwald“ (D 1995): Standpunkte von Eltern und Kindern können und müssen sich ändern, damit die Familie als Ort der Geborgenheit lebendig bleiben und überleben kann. (dakro)
„Was bleibt“, D 2012, 85 Min., Regie: Hans Christian Schmid, Buch: Bernd Lange, Kamera: Bogumil Godfrejów, Schnitt: Hansjörg Weißbrich, Darsteller: Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Sebastain Zimmler, Ernst Stötzner u.a.
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