62. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2012
Freiheit auf dem Rollbrett
„This Ain’t California“ (Marten Persiel, D 2012)
Ostdeutsche Provinz Anfang der Achtziger: Drei Kids bauen sich ihr erstes eigenes „Rollbrett“ aus demontierten Rollschuhen und Stuhllehnen, nachdem sie ein Skateboard in der Jugendserie „Luzie, der Schrecken der Straße“ begeistert hat. Sie entdecken eine Faszination, die ihr Leben verändern soll. Besonders für Denis, den talentgeförderten Leistungsschwimmer ist das Skaten mit seinen Kumpels Ausbruch aus dem rigiden 35-Stunden-die-Woche-Trainingsplan und Flucht vor seinem Trainer-Vater. Als sein Skater-Freund nach Berlin zieht und dort die Skater-Szene am Alex entdeckt, beginnt auch für Denis ein neues Leben in der Hauptstadt der DDR. Von Passanten bestaunt, von den Mädels bewundert und von den Behörden als Folge der Westpropaganda beargwöhnt und observiert, blüht am Alex eine Skater- und Breakdance-Szene auf.
Ost-Rollen am Alex: „This Ain’t California“ (Foto: Berlinale)
Für Denis ist diese Clique Familienersatz und Publikum zugleich. Der bewunderte und gefürchtete rebel-without-a-cause erwirbt sich bald den nome de guerre „Panik“, weil er sich als erster neue halsbrecherische Stunts und Moves zutraut. Unterdessen haben die Behörden, allen voran die Sportfunktionäre, das freiheitlich-rebellische Lebensgefühl der Skater zwar nicht verstanden, das sportlichen Potential dieser neuen Jugendkulturen aber erkannt. Die Breakdancer gehen regelrecht auf Tourneen und „machen tatsächlich Kohle“. Die Skater um Panik lassen sich nicht so schnell vereinnahmen, auch wenn einige von ihnen als DJ Laser & The Hurricanes die staunende Provinz aufmischen. Während die Funktionäre mit dem DDR-eigenen Brett-Label „Germina“ und offiziellem Training versuchen, das Skaten in gelenkte Bahnen zu führen, nutzt die Alex-Clique den offiziellen Aufwind für eine Teilnahme am ersten weltweiten Skater-Contest, der im Ostblock ausgerichtet wird. 1988 treffen in Prag die Ost-Jungs auf die West-Jungs und verstehen sich prächtig. Es wird gefeiert, randaliert und natürlich geskatet. Die Ostberliner kehren mit dem Gefühl zurück, das Tor zur Welt aufgestoßen zu haben. Und tatsächlich bewähren sich die neuen Freundschaften: West-Equipment wird in die Hauptstadt geschmuggelt, die Skater-Magazine berichten über die Ost-Szene. Als die Ostberliner einen gesamtdeutschen Contest ausrichten, wird es der Stasi zu viel, und Panik wird verhaftet. Wenige Tage später fällt die Mauer und die Alex-Skater verlieren sich aus den Augen.
„This Ain’t California“ von Langfilmdebütant Marten Persiel ist ein Glücksfall in mehrfacher Hinsicht: Nicht nur, dass der Dokumentarfilm mit nicht enden wollendem Original-Super-8- und frühem VHS-Video-Material aufwarten kann und nicht dokumentierte Lücken mit ästhetischen Animationen füllt, der Film ist einfach mitreißend, bewegend, ein ungewöhnliches Mosaik-Partikelchen deutsch-deutscher Geschichte, ein Hohelied auf jugendlichen Freiheitsdrang und ein liebevoller Abschied. Abschied nehmen müssen nämlich Denis’ Freunde gut 20 Jahre nach dem Mauerfall. Wie aus dem Nichts erreicht sie die Nachricht, dass Denis als Berufssoldat in Afghanistan ums Leben gekommen ist. Regisseur Marten Persiel nimmt ein Treffen nach der Beisetzung als Dreh- und Angelpunkt einer kollektiven Erinnerungsarbeit an glückliche Jugendtage trotz Systemirrsinn der DDR, an die Sprengkraft jugendlicher Vitalität und an einen verlorenen Freund. Dank einer hervorragenden Montage und einem gekonnt zusammengestellten Soundtrack strahlt das jugendliche Energielevel förmlich von der Leinwand ab. „This Ain’t California“ ist eine äußerst gelungene Mischung aus Information und Emotion, die man unbedingt auf der großen Leinwand erleben sollte. (dakro)
„This Ain’t California“, D 2012, 90 Min., Buch: Marten Persiel, Ira Wedel, Regie: Marten Persiel, Kamera: Felix Leihberg, Schnitt: Maxine Gödecke, Toni Froschhammer, Bobby Good. Produktion: Wildfremd Production Berlin.