53. Nordische Filmtage Lübeck 2011
Die seltsame Stille der Flucht
„Über das Meer – Die DDR-Flucht des Erhard Schelter“ (Arend Agthe, D 2011)
Mehrere hundert Menschen scheiterten bei der Flucht über die „Mauer“ (um die hundert zahlten für ihren Versuch mit dem Leben, andere wurden jahrelang eingekerkert), deren Errichtung in diesem Jahr ein halbes Jahrhundert her ist. Anlass, auch über die zu berichten, denen die Flucht aus der DDR gelang – zuweilen in der Stille des Spektakulären.
Die Flucht des Rostockers Erhard Schelter ist nicht nur minutiös geplant, auch gut trainiert. Vom Ostseebad Boltenhagen zur gegenüber liegenden dänischen Küste sind es „nur“ rund 40 Kilometer. Das könnte ein guter Schwimmer im gut isolierenden Neopren, das er sich klandestin aus dem Westen schicken lässt, schaffen, zumal er damit rechnen kann, dass er schon auf der Hälfte der Strecke, wo die Ostseefähren kreuzen, von einem Schiff aufgenommen wird. Doch der Teufel jedes Fluchtplans steckt im Detail – und es gibt zahlreiche unvorhergesehene Hindernisse …
Schon zwei Jahre vor Schelters spektakulärer Flucht als Schwimmer über die Ostsee im September 1974, gelang einem Rostocker Arzt das gleiche Unterfangen. Er gibt Schelter über geheime West-Ost-Kanäle wertvolle Tipps, etwa, dass man mittels Aufputschpillen die bald einsetzende Müdigkeit überwinden muss. So plant Schelter und er übt – unter den Augen der Wächter am Boltenhagener Strand. Ganz getreu der Devise, dass Offenheit die beste Tarnung ist. Als vermeintlicher Hobbytaucher am DDR-Strand begegnet ihm auch Volker Hameister, ebenfalls Fluchtwilliger, mit dem er fortan gemeinsam die Flucht plant.
Zwei die in alle Stille abtauchend fliehen wollen (Foto: NFL)
Regisseur und Autor Arend Agthe erzählt diese Geschichte mit gewitzt inszeniertem Re-Enactment, das ohne weiteres die Spannungsqualitäten eines Spielfilms entwickelt. Wohl die bessere Alternative, als die Fluchtgeschichte von den „talking heads“ erzählen zu lassen, die er auf ein notwendiges Mindestmaß reduziert, getragen von der einnehmend offenen Persönlichkeit Erhard Schelters. Letzterer macht auch deutlich, wie spektakulär die Flucht über das Spektakuläre ihres Ereignisses hinaus für ihn persönlich war, indem er Frau und Sohn zurücklassen musste und in der Stille nach der Flucht auch seine Ehe scheiterte. Dies eben hebt den Film aus dem rein Sensationellen auf eine persönlich-menschliche Ebene, die schwerer und nur stiller erzählbar ist als all die zum Teil grotesken Hindernisse, die sich für die beiden Flüchtlinge bis zum wirklichen Abtauchen ergaben und die sie mit einiger Chuzpe meisterten, was dem spielfilmerischen Teil der Doku spannungsreiche Fahrt gibt.
Eindringlich zeigt Agthe in der Stille jenseits solch Spektakulären die Problematik aller Fluchten: Dass nämlich jede Flucht über den Gewinn an Freiheit hinaus auch Verlust bedeutet, der Heimat wie der familiären Bindungen. Freiheit von ist eben nicht automatisch Freiheit zu etwas. Und so bleibt nach fast vier Jahrzehnten auch bei Erhard Schelter das Gefühl, durch seine damalige Flucht ebenso viel verloren wie gewonnen zu haben. Dass das eine nicht ohne das andere geht, wenn man fliehen muss, auch das zeigt uns der Film – nicht zuletzt in den Szenen des einsamen Schwimmers auf dem weiten, weiten Meer. (jm)
„Über das Meer – Die DDR-Flucht des Erhard Schelter“, Deutschland 2011, 75 Min., Buch, Regie: Arend Agthe, Darsteller: Björn Bugri (Erhard Schelter), Christian Arnold (Volker Hameister), Lisa Adler (Frau hinter dem Tresen), Michael Ihnow (VoPo-Offizier), Steffen Czech (Mann am Kneipentisch)