53. Nordische Filmtage Lübeck 2011

Wenn der Kiez geigt

„20 Geigen auf St. Pauli“ (Alexandra Gramatke, Barbara Metzlaff, D 2011)

Von wegen Problemstadtteil – St. Pauli ist musikalischer Pionier, seit der aus Kolumbien stammende Musiklehrer Gino Romero Ramirez das Experiment wagte, Grundschülern von der 2. bis zur 4. Klasse im Klassenverbund Geigenunterricht zu erteilen. Aus den dafür mittels Spenden zunächst angeschafften 20 Geigen sind inzwischen gut 200 geworden, und Ramirez unterrichtet mittlerweile an drei Schulen sowie im Verein „Musica Altona“ den Nachwuchs auf der Geige. Sein Ziel ist dabei nicht, Geigenvirtuosen heranzuziehen. „Es kommt nicht darauf an, dass alles perfekt ist“, sagt er seinen jungen Schülern, „sondern dass wir alle zusammen etwas geschafft haben“. Ramirez will den Kindern ganz spielerisch die berühmten Kernkompetenzen vermitteln – wie wichtig Geduld und Konzentration für das Lernen sind und dass ein Schlüssel zum Erfolg darin liegt, aufeinander zu hören.
Der Dokumentarfilm der „Die Thede“-Regisseurinnen Alexandra Gramatke und Barbara Metzlaff Film begleitet die Geigenklasse während der ganzen Zeit – vom ersten schrägen Ton bis zum großen Konzertauftritt. Die Kamera bleibt dabei ganz bewusst im Hintergrund und wurde, so berichten die Filmemacherinnen, von den Kindern schon recht bald kaum noch bemerkt. So gelingen ihr bezaubernde Nahaufnahmen von Kindergesichtern, die ganz versunken scheinen in das Geigenspiel. Der „Niedlichkeitsffaktor“ spielt bei solcher Nähe des Films zu seinen Protagonisten sicher auch eine Rolle, ist aber nicht kalkulierte Absicht. Vielmehr soll hier Einblick gewährt werden in einen ebenso einzigartigen wie eigentlich ganz normalen Lernprozess, den musikalische Ausbildung frei von Zwängen und „Jugend musiziert“-ähnlichem Elitedenken bieten kann. Denn Erziehung zur Kunst, das wird hier deutlich, ist Erziehung zum Menschen.
Konzentriert an der musikalischen Schule des Lebens (Foto: NFL)
Dramaturgisch souverän streuen die Filmemacherinnen die berühmten Establishing-Shots ein, Straßenszenen aus St. Pauli, die auch ein wenig eine Liebeserklärung an den wohl kulturell vielfältigsten und lebendigsten Hamburger Stadtteil sind. Nicht minder liebevoll sind die Interviews mit Ramirez, die nebenbei auch noch seine Situation als ehemaliger Migrant zeigen, der diesen einzigartigen Musikunterricht anfangs nur als Honorarkraft ausübte – selbstausbeuterisch freilich nur, was die Bezahlung betrifft, denn der eigentliche Gewinn ist die Fröhlichkeit, die ihm aus der Arbeit mit den Kindern, die ihm zu Freunden werden, erwächst und die er dann wiederum vor der Kamera versprüht. Zumal im innig freundschaftlichen Verhältnis mit seiner Nachbarin, einer waschechten alten „Hamburger Deern“. Eine Seitengeschichte, die der Film geschickt nutzt, um Ramirez’ Charakter und seine menschen- und musikfreundliche „Mission“ zu illustrieren. Damit erreicht er das Beste, was einem Dokumentarfilm gelingen kann: Nämlich ohne jede Anbiederung Nähe zu seinem „Gegenstand“ zu schaffen.
Ein Film, der Mut macht und die Freude an der Musik, die er zeigt, unmittelbar auch auf den Zuschauer überträgt. Häufiger Szenenapplaus daher auch bei der Vorführung im Filmforum. Für ebensolchen hatten die 20 Geigen aus St. Pauli schon bei der Eröffnung der Nordischen Filmtage als Live-Act gesorgt. (jm)
„20 Geigen auf St. Pauli“, Deutschland 2011, 76 Min., Buch, Regie: Alexandra Gramatke, Barbara Metzlaff, Web: www.diethede.de.
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