52. Nordische Filmtage Lübeck 2010
Setzkasten der Erinnerungen
„Zwiebelfische – Jimmy Ernst, Glückstadt/New York“ (Christian Bau, Artur Dieckhoff, D 2010)
1935 schickten der bekannte deutsche Maler, Grafiker und Bildhauer des Surrealismus, Max Ernst, und seine Frau Louise Straus-Ernst, eine jüdische Kunsthistorikerin, ihren gemeinsamen Sohn Hans-Ulrich nach Glückstadt, damit er dort in der renomierten Druckerei J. J. Augustin eine Lehre als Schriftsetzer beginnt. Hans-Ulrich, von allen nur Jimmy gerufen, sollte in der norddeutschen Provinz untertauchen, denn als „Halbjude“ musste er jederzeit um seine Freiheit und sein Leben fürchten. Anders wäre es auch nicht möglich gewesen, dem Jungen eine normale Berufsausbildung zuteil werden zu lassen. Hans Augustin, Geschäftsführer des traditionsreichen Familienunternehmens J. J. Augustin und ein Freund von Louise, ermöglichte Jimmy die Ausbildung in seinem Unternehmen, das für seinen Satz in praktisch allen Sprachen weltweit unter Verlegern geschätzt war. Als Hans Augustin 1936 selbst aus politischen Gründen in die USA auswandert und dort ein Verlagshaus gründet, kümmern sich seine Eltern um den jungen Ernst, bis es ihm selbst gelingt zu emigrieren. Während seiner Lehrjahre aber entwickelt Jimmy Ernst eine Faszination für die Typografie, die sich in seinen späteren, malerischen Werken manifestieren sollte. Während Jimmy Ernst aus Deutschland in die USA ausreisen und sein Vater Max aus dem besetzten Frankreich vor den Nazis fliehen konnte, kam seine Mutter Louise als eine der letzten Internierten in Auschwitz ums Leben.
Jimmy Ernst
Das Multi-Media-Projekt „Zwiebelfische“ – veröffentlicht als Buch und Dokumentarfilm und ergänzt durch eine Fotoserie von Candida Höfer – folgt der Geschichte des jungen Jimmy Ernst, aber ist doch viel mehr als bloße Biografie. Christian Bau und Artur Dieckhoff portraitieren mit der Druckerei Augustin auch ein längst vergangenes Zeitalter der Drucktechnik, als Lettern noch von Hand oder mit der „Monotype“ gesetzt wurden, als der Satz der Tageszeitung noch frisch in Blei gegossen wurde. Fast sinnlich erfahrbar wird die Faszination des traditionellen Druckhandwerks, die Jimmy Ernst noch Jahrzehnte später Impulse für seine Kunstwerke liefern sollte und ihn inspirierte, die Grenzen zwischen Handwerk und Kunst aufzulösen.
Faszination und Wehmut wechseln sich ab, wenn Barbara Metzlaffs Kamera in sanfter Fahrt über die Setzkästen, Satz- und Druckmaschinen streicht. Zigtausende Bleilettern in fast allen Sprachen standen für den Satz von internationalen, wissenschaftlichen Werken zur Verfügung. Die geniale, zeitsparende Anordnung der über 6.000 chinesischen Schriftzeichen in „chinesischen Zirkeln“ hatte sich der Senior-Chef Heinrich-Wilhelm Augustin selbst ausgedacht. Noch heute bestehen alle diese Arbeitsräume, als hätte die Belegschaft gerade Feierabend gemacht. „Wie beim Untergang vom Pompeji“, raunt der jetzige Besitzer der Druckerei in die Kamera. Doch der einstige Maschinenlärm erklingt nur noch für seltene Besucher, der Betrieb ist unwiderruflich eingestellt.
Setzkasten „chinesischer Zirkel“
Wie aus einzelnen Lettern setzen Bau und Dieckhoff die Erinnerungen an Jimmy Ernst, die Druckerei J. J. Augustin, aber auch an ein Glückstadt zur Nazizeit und das Schicksal einer Künstlerfamilie zu einem vielschichtigen Dokument zusammen. Die beiden Regisseure und ihre Cutterin Maria Hemmleb verstehen es, das wenige, erhaltene Bild- und Textmaterial aus den 30er Jahren so geschickt mit aktuellen Interviews und Bildaufnahmen zu verweben, dass eine durchweg interessante und fesselnde Textur entsteht. Ulrike Haages stimmungsvoller und einfallsreicher Soundtrack und Burkhart Klaußners kontrollierte, feinfühlige Erzählstimme sorgen für die notwendige emotionale Nähe zu den Protagonisten. „Zwiebelfische – Jimmy Ernst, Glückstadt/New York“ verbindet äußerst gelungen eine Künstlerbiografie mit einem differenzierten Zeitportrait und ist zugleich ein wertvoller Beitrag für die Dokumentation der jüngeren schleswig-holsteinischen Geschichte. (dakro)
Im Anschluss an die Premiere des Dokumentarfilms „Zwiebelfische – Jimmy Ernst, Glückstadt/New York“ am 4. November 2010 um 19.45 Uhr im Lübecker Kolosseum gibt die Komponistin der Filmmusik, Ulrike Haage, ein Klavierkonzert. Am 9. Dezember 2010, 20.30 Uhr (weitere Aufführung: 12.12.2010, 16 Uhr) findet im KoKi Kiel die Kiel-Premiere des Films statt.
„Zwiebelfische – Jimmy Ernst, Glückstadt/New York“, D 2010, 58 min., Digi Beta. Buch, Regie: Christian Bau, Artur Dieckhoff, Kamera: Barbara Metzlaff, Jörn Staeger, Schnitt: Maria Hemmleb, Musik: Ulrike Haage, Sprecher/in: Burkhart Klaußner, Verena Reichhardt, Produktion: die thede, Hamburg. Gefördert durch die Filmförderung Hamburg-Schleswig-Holstein GmbH (FFHSH)