„ad acta“ – Gegen das Verschwinden in den Archiven
Dokumentarfilm von Antje Hubert und Olga Schell
„Euthanasie“ und Zwangssterilisation in der NS-Zeit – ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte, deren Opfern immer noch nicht Gerechtigkeit, das heißt vollständige Anerkennung und Entschädigung widerfährt. Schon die Bezeichnungen der verbrecherischen Tatbestände scheinen sich einer wohlfeilen, medizinisch-techno- und bürokratischen Verschleierung anzudienen. Die Geschichte der Patientenmorde und der „gesundheits“-politischen Praxis der Zwangssterilisation, die eine unheilvolle Spur von ihrer „wissenschaftlichen“ Rechtfertigung seit den 20er Jahren bis in unsere Tage zieht (ein entsprechendes Gesetz von 1934 ist immer noch rechtsgültig), scheint von Politik, Justiz und Verwaltung zu den Akten gelegt worden zu sein.
Das Versagen der bundesrepublikanischen Justiz und Politik in der Aufarbeitung von 70.000 behördlich dokumentierten Patientenmorden allein bis 1941 und weit über 350.000 Zwangssterilisationen wird bis in unsere Tage schlicht und ergreifend ignoriert, beschönigt und bestenfalls „bedauert“, ohne den letzten Überlebenden in voller Konsequenz soziale, finanzielle und rechtliche Hilfe zukommen zu lassen.
In ihrem 85-minütigen Dokumentarfilm „ad acta“ nähern sich die Kieler Dokumentarfilmerinnen Antje Hubert und Olga Schell diesem Thema über die Opferperspektive. Deren traumatische Erinnerungen sind der Ausgangspunkt von akribischen Nachforschungen zu ihrer eigenen Geschichte. In fast privat anmutenden Gesprächen mit den Überlebenden werden Einblicke in Leben gewährt, die bis heute von Bewältigungsversuchen und unermüdlichem Kampf gegen das Vergessen und Verdrängen bestimmt sind.
Josef Simon hat sich ein privates Archiv erarbeitet. Die „Beweismaterialien“ in seinem Keller, seine Aktenabschriften, Prozessnotizen, Tondokumente mit Zeugen und Mittätern erzählen von seiner nun schon bald 60 Jahre währenden Aufarbeitung. Noch immer „forscht“ er in den Akten des Bundesarchivs und anderen Archivalien dem Schicksal seiner Mutter nach, die, weil sie seelisch und geistig krank war, aller Wahrscheinlichkeit nach 1941 umgebracht wurde. Mit langem Atem rekonstruiert er auch sein eigenes Opferschicksal als Zwangssterilisierter.
Dorothee Buck versucht die Aufarbeitung ihrer Leidensgeschichte und die Erfahrungen mit eigenen Psychosen in ihrer Jugend, die für die NS-Medizin Begründung genug waren, sie zwangsweise zu sterilisieren, für ihren Kampf um eine bessere Psychiatrie nutzbar zu machen. Mit ihrer Autobiografie, Patientenseminaren, eigenen Vorträgen und anderem ist sie auf der Suche nach Alternativen zu dem unheilvollen biologistischen Ansatz, der vor 1945 die Basis zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ bildete.
Elvira Manthey verfolgen ihre traumatischen Erinnerungen vor der Gaskammer, der sie nur durch eine Laune der NS-Ärzte entronnen ist, ebenso wie die vielen getöteten Kinder, die sie sah. Noch immer existiert im Landesarchiv von Sachsen-Anhalt über sie eine offizielle Krankenakte, die sie zur „Schwachsinnigen“ abstempelt. Begreiflich ihr Schmerz, ja ihre Wut, ihre Streitbarkeit und Hartnäckigkeit in ihrem Wunsch nach Rehabilitation und die Verfügungsgewalt über ihre eigene Geschichte.
„ad acta“ gewinnt für den Zuschauer die Schicksale von Opfern der NS-Medizin aus den Archiven zurück, fordert, dass die in Ordnern und Kartons abgeheftete und abgelegte Geschichte der Leidtragenden endlich eine gerechte Behandlung durch Staat und Gesellschaft erfährt. (Helmut Schulzeck)