Experimentalfilm-Programm BLICKFANG beim 27. Filmfest SH 2023
Experimenalfilme loten seit jeher die Grenzen des Mediums Film aus, vor allem indem sie es nicht nur als Transportmedium nutzen (wie Spiel- und Dokumentarfilm), sondern es und das Sehen selbst und seine Gewohnheiten hinterfragen. Umso interessanter, dass das Filmfest SH mit BLICKFANG, kuratiert von den Kieler Medienkünstlerinnen Eugenia Bakurin und Pola Rader, dem Experimentalfilm erstmals eine eigene Plattform etablierte.
25 Bilder pro Sekunde machen – normalerweise – einen Film und die Illusion des bewegten Bildes. Was aber, wenn ein Film nicht diese „Sinnestäuschung“ evoziert, sondern uns 13 Minuten lang mit einer Kette von 10.000 (Stand-) Bildern (entspricht etwa alle Zehntel-Sekunde ein neues Bild, entspricht wiederum knapp zwei Filmbilder/Frames pro Standbild) geradezu überflutet? „ABYSS“ (DK 2022, 13 Min., R: Jeppe Lange) unterlegt diesem experimentellen Konzept noch ein weiteres: Es sind nicht irgendwelche Bilder, auch keine gefilmten/fotografierten, sondern von einem Algorithmus erzeugte. Jeppe Lange verwendete Googles KI-gesteuerte, Muster erkennende Rückwärts-Bildsuche zur Erzeugung der 10.000 aneinandergeketten Einzelbilder.
Beim „normalen“ Film ähneln sich die aufeinander folgenden Frames insofern, als sie wie beim Filmpionier Eadweard Muybridge und seiner Chronophotographie fortlaufende Bewegungsphasen reihen. In Jeppe Langes Experiment verknüpft etwas Anderes Einzelbild mit Einzelbild: die Ähnlichkeit eines Pixelmusters mit seinen Parametern Form, Farbe und Helligkeit, erkannt und stoisch perpetuiert vom Google-Algorithmus. Das Erstaunliche: die vom Einzelbild ins zehntausendste, buchstäblich vom Höckschen aufs Stöckchen kommende Bilderflut ist eine Folge rein optischer Assoziationen (besser: Korrelationen), die doch insofern sinnfällig erscheint, als sie eine Geschichte erzählt – oder zu erzählen scheint, ein Narrativ des komplexen Algorithmus. Der Film ist insofern auch ein Dokument dessen, wie ein KI-Algorithmus arbeitet: nah an der menschlichen Assoziation und doch immer wieder weit in den Abgrund des Chaotischen abgleitend oder ausweichend. Schaut man genauer und öfter hin, ergeben sich weitere interessante Effekte. Z.B. verharrt der Algorithmus zuweilen länger auf einem Muster, dreht sich auf ihm im Kreise, und das gerade bei Pornobildern. Das lässt tief blicken … Und am Ende bleibt er auf einer weißen Fläche stehen – im Nichts oder Allem.
Ein zuckendes Bilder-Chaos, das seine innere Logik genau aus solcher Verwirrung gewinnt, zeigt auch „ER IS EEN GEEST VAN MIJ“ (NL 2021, 6 Min., R: Mateo Vega). Untermalt von einem spanisch-niderländischen Gedicht (leider nicht in Untertiteln übersetzt) erforscht der Filmemacher ein Ich in der schmerzhaften Auseinandersetzung mit einer nicht gelebten, dennoch lebbar erscheinenden Utopie. Selbstreflexiv zum Medium ist dabei das Geister- und Gespensterhafte, das Zuschauer*innen in seiner Frühzeit vor 130 Jahren erlebten, wenn sie einen Film sahen. Nicht zuletzt auch eine Reflektion über Bewegung versus Stillstand.
Zwischen Bewegtbild und Fotografien changierten Experimentalfilme schon früh, gleichsam im Sinne eines Abnabelungsprozesses der beiden Medien voneinander, die doch so verwandt sind. Meggy Rustamova wendet in „HORAIZON“ (Belgien 2022, 11 Min.) solche Ästhetik auf Naturbilder an. Fotos erscheinen dabei eigentümlich bewegt, während filmische Einstellungen ungemein ruhig wirken. Wenn man deuten wollte: Ein Gletscher schmilzt schneller, als man denkt; die Anatomie des Vogelflugs lässt sich nur in der Zeitlupe des Einzelbilds entschlüsseln.
Um die Bannung des Bewegten ins Einzelbild kümmerte sich schon vor rund 100 Jahren Marcel Duchamp, als er Muybridges Experiment sozusagen rückwärts ausführte. Berühmt seine Gemäldereihe „Akt, eine Treppe herabsteigend“. Bereits mit dem Titel „MIT FLÖTE DIE TREPPE HERABSTEIGEND“ (D 2022, 7:30 Min.) nehmen die Filmemacher Karsten Wiesel, Neo Hülcker, Kilian Schwoon und Robin Hoffmann darauf Bezug. Aber nicht nur das Bild führt hier zum Stop and Go zwischen Verharren und Weiterschleichen, auch der Soundtrack, der mit verfremdeten Geräuschen der knarrenden Treppe und des Atems der Flöte neumusikalische Akzente setzt – das Eine das Andere nicht kommentierend, sondern seine Eigenständigkeit bewahrend: Bilder sind auch nichts als geordnete Geräusche …
Stop-Motion ist das Produktionsprinzip des Animationsfilms. Und wenn dabei selbstironisch „Schluss ist mit dem Gedudel mit dem Pudel“, allemal mit dem „Gewackel mit dem Dackel“, ist „OSCHTSEE“ (D 2022, 5 Min., R: Klaus Höfs) eine medienreflexive Hommage an den Norden, wo man wenig spricht (wenn, dann in buchstäblich bewegten stummen Lettern) und sich wackelnd bewegt. Dass dabei noch so nebenbei der Bonnie & Clyde-Mythos zitiert wird … ein hübsches Bonbon!
Krieg ist eine bestürzende Bewegung und verharrt wie jüngst im Krieg Russlands gegen die Ukraine in fast unbeweglichen Fronten. „Es ist” zwar „nicht, wie es bleibt“, sagte Heiner Müller einmal im Gestus utopischer Protestation, aber im Krieg und seinen Folgen kann das Bewegende zur andauernden, statischen Belastung werden. Wie erinnet man sich daran, was doch täglich und alptraumnächtlich gegenwärtig ist? Gor Margaryan setzt sich in „PHANTOMFLUG“ (D 2022, 17 Min.) mit den Super-8-Bildern seiner (?) Familie auseinander – vor dem Krieg auf dem Balkan vor nurmehr 30 Jahren. Das sind Idyllen, über denen doch – ex post – die Bedrohung hängt. Bombenflugzeuge kreuzen den Gewitterhimmel, „die Panther sind zurück“. Hände streifen über Stacheldrähte wie vorher durch die Gräser am Weg. Doch das Idyll wird zum Protest, ein Angehen gegen die nach ihm erfolgten Verheerungen. Und die filmische Verarbeitung bleibt im Zweifel des eigentlich Unvorstellbaren: „Sterben kann ich mir nicht vorstellen. Du kannst keinen Menschen in deinem Kopf töten für deinen Film.“ Gewiss nicht – doch Film, vor allem der experimentelle, kann noch viel mehr.
Den von Filmkultur SH e.V. gestifteten und mit 500 € dotierten BLICKFANG-Publikumspreis gewann Gor Margaryan für „PHANTOMFLUG“. (jm)