56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006
Sittenbild der 50er
„The Notorious Bettie Page“ (Mary Harron, USA 2005)
Bettie Page ist eine wahre Pop-Ikone. Der Look, den das Pin-Up-Modell in den 50ern kreierte, ist bis heute fester Bestandteil der Populärkultur: Dunkelbraunes, langes, lockiges Haar, vorne Pony-Schnitt, dunkle Augenbrauen, rot geschminkter Mund. Von Madonna bis Nina Hagen greifen Pop-Stars und Sternchen gerne in die Stil-Schatzkiste der einstigen Pin-Up-Queen, deren naiv-erotischer Charme in zahllosen Fotos und 16mm-Filmchen die Jahrzehnte überdauert. Der ersten dramatischen Aufarbeitung ihrer Lebensgeschichte in Mary Harrons Film „The Notorious Bettie Page“ schlug deshalb gebührendes Interesse entgegen.
Harron arbeitet die Lebensgeschichte der Anfang der 20er in Nashville, Tennessee geborenen Bettie Page recht unspektakulär auf. Nach früh gescheiterter Ehe zieht die gläubig erzogene, regelmäßige Kirchengängerin Bettie nach New York, um dort auf die Schauspielschule zu gehen. Die Karriere als Fotomodell beginnt eher zufällig, doch nachdem Irving Klaw und seine Halbschwester Paula Bettie „entdecken“ beginnt ihre Karriere als „dunkle Göttin des Pin-Up“. Das Geschäft mit Fetisch-Fotos läuft gut, die Klaws können expandieren, sehen sich aber alsbald mit den Behörden konfrontiert, die eine Verbreitung von pornografischem Material über US Mail verbieten. 1955 kommt es zu einer Anhörung vor dem US Senat, zu der auch Bettie geladen wird.
„Dunkle Göttin des Pin-Up“, Gretchen Mol in „The Notorious Bettie Page“ (Foto: Berlinale) und im wirklichen Leben (unten)
Harron inszeniert Gretchen Mol als Bettie Page in einer Mischung aus selbstverständlicher Frömmigkeit und naivem Spaß am Posieren für „seriöse Kunden“. Die Regisseurin versucht keine psychologische Studie, sondern liefert eher eine beschauliche Geschichtsstunde zum Thema moralische Bigotterie der amerikanischen Gesellschaft in den 50ern. Die gehobene Mittelschicht ist es, die für den Boom im Sex-Business sorgt. Wie Paula Klaw, glaubwürdig gespielt von Lily Taylor, immer wieder betont, haben die hart arbeitenden Rechtsanwälte, Richter und Mediziner ein Recht darauf, sich von den Strapazen auf ihre Weise zu erholen. Und Bettie liefert das Anschauungsmaterial dafür. Andererseits sind es aber genau diese Vertreter der gehobenen Mittelschicht, die auf Druck einer entsetzten und überforderten puritanischen Öffentlichkeit die Hersteller dieser vermeintlichen Pornografie verurteilen. Bettie sieht zunächst nichts Anstößiges in ihrer Arbeit als Modell, doch möchte sie eigentlich den Durchbruch als ernsthafte Schauspielerin. Der bleibt ihr versagt. Und spätestens nachdem ihr ein Schauspielkollege seine Verachtung angesichts ihrer Fotos entgegenhält, gerät Betties Weltbild ins Wanken. In der Schlussszene lässt Harron Bettie in die Arme der Kirche zurückkehren.
Harrons Film bleibt merkwürdig oberflächlich. Selbst wenn sie kein Psychogramm inszenieren wollte und Lebensstationen wie die mehrfache orale Vergewaltigung Betties nicht als einschneidendes Erlebnis dramatisiert wird, fehlt es der Betrachtung des Sittenkodexes der 50er an Schärfe oder Witz. Die Figur der Bettie macht keine wirklich Entwicklung durch. Auf die Frage, ob das Intention sei, antwortete Harron nach der Premiere auf der Berlinale, das entspreche der tatsächlichen Bettie Page, die Harron im Rahmen der Produktion des Filmes kennen lernte. Doch Harron klammert in ihrem Film Betties Kampf gegen den Alkohol, ihre Gefängniskarriere und die erst daran anschließende Hinwendung zum Christentum aus. Vielleicht weil dies nicht in ihr Konzept einer recht harmlosen Bebilderung einer ungewöhnlichen Modellkarriere in den 50ern passte. Die gesellschaftlichen Widersprüche der 50er lassen sich über die Figur der Bettie vermitteln, die Folgen allerdings klammert Harron in „The Notorious Bettie Page“ leider aus. (dakro)
The Notorious Bettie Page, USA 2005, 91 Min., 35 mm. Buch: Mary Harron, Guinevere Turner, Regie: Mary Harron, Darsteller: Gretchen Mol, Lili Taylor u.a.