Familie und Erinnerung

Eindrücke vom Hamburger Filmfest 2005

Vier Filme aus dem Programm des Hamburger Filmfestes 2005 können natürlich kein repräsentativer Querschnitt sein. Eine Zufallsauswahl zudem, denn drei der vier hier kurz besprochenen Filme fanden sich im samstäglichen Programm der Akkreditiertenvorstellungen. Trotzdem befassen sich zumindest zwei der drei Titel mit den Themen, die sich beim Hamburger Filmfest als Gemeinsamkeit in den internationalen Einreichungen erspüren lassen: Familie und Erinnerung.

Der Ruf einer mitreißenden Dokumentation im Stile von „Rhythm Is It“ und die Vorschusslorbeeren der US-Presse eilte der amerikanischen Produktion „Mad Hot Ballroom“ von Marilyn Agrelo (Regie) und Amy Sewel (Buch) voraus. Entsprechend voll war der große Saal des Grindel-Kinos am Abend der öffentlichen Aufführung. Das Publikum war eingestellt auf die wahre, aber schöne Geschichte von New Yorker Schulkindern, die sich in einem 10-wöchigen „Ballroom Dancing“-Kurs in die Gesellschaftstänze Merengue, Swing, Rumba, Foxtrott und Tango einweisen lassen und an einem stadtweiten Wettbewerb der New Yorker Public Schools teilnehmen.

Tanz als Integration: „Mad Hot Ballroom“

Der Film lebt von seinen Darstellern, den cleveren oder naseweisen, elfjährigen Kids, die aus ganz unterschiedlichen sozialen Hintergründen im Tanzkurs zusammenfinden, und einer Handvoll einfühlsamer Lehrer, die den Idealismus des Projektes formulieren. Buchautorin Amy Sewell schrieb als Journalistin einen Artikel über das 1996 ins Leben gerufenen Ballroom Dancing Projekt und schlug ihrer Freundin und Filmproduzentin Marilyn Agrelo vor: „Let’s make a movie“. Die Filmemacherinnnen suchten Anfang 2002 drei Public Schools aus Brooklyn, Washington Heights und Tribecca für ihre Beobachtungen aus. Die soziale Zusammensetzung an den Schulen ist sehr unterschiedlich, das spiegelt sich in den Tanzkursen und späteren Turnierteams. Die smarten Downtown-Manhattan-Kids aus Tribecca fragten das Filmteam schon bei der ersten Begegnung nach dem Distribution Deal, während der junge Dominikaner Wilson gerade erst auf die Schule gekommen war und noch kein Wort Englisch sprach. Dass Ballroom Dancing auch den Zweck der multikulturellen Integration erfüllt, arbeitet der Film deutlich heraus. Der fremde Außenseiter Wilson kann durch sein Geschick beim Turnier bei seinen Klassenkameraden punkten. Seine witzigsten Momente hat der Film, wenn die Kids unter sich das Tanzen und ihre Tanzpartner kommentieren. Da entwickeln Elfjährige schon detaillierte Lebenspläne und wissen schon genau, wann sie das erste und einzige Kind bekommen und welche Charaktereigenschaften ihr Traumpartner haben muss.

Die Kamera „sitzt“ mit den Kids in der Runde und „tanzt“ in den Kursen auch oft mit. Das schafft Nähe, reißt mit und fällt nicht im mindesten negativ auf, weil die Kinder offensichtlich Spaß daran haben und sich nicht irritieren lassen. Die Filmemacher konzentrieren sich ausschließlich auf die Tanzkurse und Tanzturniere sowie deren positiven Wirkungen, ohne auf die Notwendigkeit für solche unzweifelhaft wertvollen pädagogischen Maßnahmen einzugehen. Nur am Rande wird erwähnt, dass nach dem 11. September 2001 natürlich jede positiv stimulierende Aktion für New Yorker Kids willkommen war und dass die Notwendigkeit von Integration verschiedener Kulturen und sozialer Schichten in New Yorker Schulen eine besondere Dringlichkeit hat. Hinterleuchtet werden diese Thesen nicht, ebenso wenig wie die Zweifel einer Lehrerin, ob denn eine Wettbewerb notwendig sei. Weinende Verlierer gibt es daher auch nur einmal zu sehen, dafür viel und lange die Gewinner. Ein Fazit des Projektes und seiner Bedeutung für die Kids wird nur am Beispiel eines jungen Tänzers gezogen, der natürlich mit seinem Team zum Gewinner des Wettbewerbs gekürt wird. Von ihm, erzählt eine Lehrerin im Off, während die Übergabe der Trophäe gefeiert wird, habe man angenommen, dass er auf die schiefe Bahn geraten würde. Doch durch Ballroom Dancing sei aus ihm ein kleiner Gentleman geworden, von seinen jüngeren Mitschülern bewundert. „He’s gonna be success in life“.

Poetische Fantasie? Slapstick? Eine melancholische Studie über Liebe und Beziehungen? Eine surreale Variation über das kleinbürgerliche Vorstadtleben? Diese Fragen stellt das Programm des Filmfestivals in seiner Beschreibung zu „L’Iceberg“, einem Gemeinschaftsprojekt der belgischen Filmemacher und Schauspieler Fiona Gordon, Dominique Abel und Bruno Romy. Die Antwort muss wohl lauten: von allem ein bißchen, aber nichts richtig.

Traumziel Eisberg: „L’Iceberg“

„L’Iceberg“ erzählt die Abenteuer von Fiona, die aus ihrem scheinbar glücklichen Leben zwischen Kleinfamilie und Job im Fastfood-Restaurant ausbricht um den titelgebenden Eisberg zu finden. Sie erobert auf ihrer Flucht einen taubstummen, vom Schicksal gezeichneten Seemann, der sie mit seinem Segelboot „titANIQUE“ dem Traumziel Eisberg näher bringen soll. Doch Fionas Gatte gibt sich nicht so schnell geschlagen und verfolgt die beiden versteckt im Rettungsboot, bis es zum dramatischen Finale kommt. Der Film punktet mit etlichen, netten visuellen Einfällen und einer sympathischen Schrägheit. In durchgehend starren Einstellungen, mit Rückprojektionen sowie Kadern, Farben und Formen, die auf die „ligne claire“ des belgischen Comiczeichners Hergé verweisen, sticht der Film stilistisch aus der üblichen Ware heraus. Man merkt der gedehnten Storyline und der quasi ausbleibenden Figurenentwicklung aber den Kurzfilm-Background bzw. mangelnden Erfahrung der Filmemacher mit dem abendfüllenden Format an. Auch wenn der Film nicht an seine Vorbilder heranreicht, für Fans von Jaques Tatis „Monsieur Hulot“-Filmen oder Hergés „Tim und Struppi“-Comics ist die Expedition zum Eisberg eine amüsante, zitatenreiche und zeitweise fantasiereiche Reise.

„Electric Shadows“ der Fernseh-Regisseurin und Spielfilm-Debutantin Xiao Jiang erzählt rückblickend eine Familiengeschichte während der Kulturrevolution in den 70er Jahren in China. Die uneheliche Ling Ling lebt allein mit ihrer Mutter, einer als Konterrevolutionärin gebrandtmarkten Schauspielerin. Als die Mutter mit dem Kinobetreiber des Dorfes anbändelt und Ling Ling einen gleichaltrigen, filmbegeisterten Spielkameraden findet, beginnt für sie eine glückliche Zeit, die aber mit der Verschickung ihres Freundes zum Landdienst und der Heirat ihrer Mutter mit dem Kinobetreiber endet. Denn als die beiden einen Sohn bekommen, steht dieser im Mittelpunkt und Ling Ling muss gegenüber dem jüngeren Bruder zurückstehen. Als der Sohn bei einem tragischen Unfall ums Leben kommt, eskalieren die Spannungen in der Familie und Ling Ling verschwindet unauffindbar. Erst in der Gegenwart kommt es zu einer Familienzusammenführung.

Kulturrevolutionäre Zeiten als bloßer Hintergrund: „Electric Shadows“

Wie „Balzac und die kleine Schneiderin“ arbeitet auch „Electric Shadows“ mit den Themen Familie, Liebe und Leidenschaft für Kino (-Kultur) vor dem Hintergrund der Kulturrevolution. Doch anders als „Balzac“ oder „Peacock“ gelingt es dem Film nicht, die Auswirkungen der geistes- und menschenfeindlichen Grundstimmung der Kulturrevolution auf das Familienleben schlüssig darzustellen. Die politischen Verhältnisse scheinen für Jiang mehr dramaturgisches Mittel zum Zweck für den Spannungsbogen einer Familientragödie mit leisem Happy End zu sein. Die erzählerischen Elemente „glückliche Jahre unter schwierigen Umständen“ und die „Magie des Kinos“ werden dabei ein wenig überstrapaziert.

Auch Felix Leclerc, kanadischer Video-Clip und Spielfilmregisseur, vergibt in „Memoires Affectives“, die Chancen seines Amnesie-Thrillers. Die Exposition nervt etwas durch ihre unterkühlte, nicht mehr so hippe Grau-Blau-Ästhetik und auf Minimalismus gestylte Krankenzimmer und Polizeireviere. Alexandre erwacht nach einem Unfall mit Amnesie im Krankenhaus. Ein Anschlag auf sein Leben hat ihn aus dem Koma gerissen. Seltsame Erinnerungen quälen ihn. Die obligatorische Schnitzeljagd und ein Puzzlespiel der Erinnerungen nehmen ihren Lauf, bis ein Familiengeheimnis gelüftet wird, das man schon erahnt. Alexandre muss sich zeitweise mit seiner kaputten Ehe und einer enttäuschten Tochter auseinandersetzen, von der er natürlich nichts mehr weiß.

Zu viele Schnitzel auf der Erinnerungsjagd: „Memoires Affectives“

Aber anstatt sich des Themas der zweiten Chance – oder der Unmöglichkeit einer solchen – nach einem Totalausfall der menschlichen Erinnerung zu widmen, setzt Leclerc nur auf die kriminalistische Komponente seiner Story. Ehefrau und Tochter verschwinden somit auch schon nach der Hälfte des Films in den ewigen Jagdgründen des Drehbuchs. Ach ja, einen Schuss Esoterik gibt’s auch noch, Alexander kann nämlich plötzlich unter Hypnose eine indianische Sprache sprechen, weil er die Erinnerungen eines indianischen Jägers geerbt hat. Was das aber mit seinem Bruder, von dem keiner wusste, und dem Hirsch, der tot an der Straße lag, zu tun hatte? Da ging mir wohl ein Schnitzel auf der Jagd verloren. (dakro)

 

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