Schleswig-Holstein Musikfestival 2005:
Auf dem Grat dazwischen
Kammerkonzert mit Mitgliedern der SHMF-Orchesterakademie in der Bethlehem-Kirche Kiel-Friedrichsort
Impressionismus, Expressionismus? – dazwischen liegen gar nicht so weite Welten im Kammermusik-Programm, mit dem Mitglieder der Orchesterakademie des SHMF mitten in den Endproben für den großen Abschluss noch einen außerplanmäßigen Abstecher in die Friedrichsorter Bethlehem-Kirche machten, angeregt und finanziell großzügig unterstützt von der Kieler Familie Klaus Murmann.
Unbeschwert manöveriert Jacques Ibert, ein ausgesprochener Anti-Modernist, sein “Trio für Geige, Cello und Harfe” durch salonmusikalische Untiefen, in denen Debussys Impressionismus angekommen scheint im sentimentalen Affekt. Dennoch – für den tändelnden Start in einen spätsommerlichen Kammermusikabend ist das eine genauso gute Wahl wie die darauf folgende “Sonata op. 43/1 für zwei Kontrabässe” von Bernhard Romberg. Denn im Spannungsfeld zwischen Im- und Expressionismus bereiten ungewöhnliche instrumentale Klangfarben angenehm sanft auf das Außergewöhnliche vor. Nämlich Arnold Schönbergs “Streichsextett op. 4 – Verklärte Nacht”: Nach den launigen Kabinettstückchen liefert das Ensemble hier die Großtat des Abends. Als Weg aus der Finsternis der Verfallenheit zum Licht der Verklärung “vertont” der noch tonale Schönberg ein Gedicht von Richard Dehmel, in dem eine Untreue den Seitensprung mit Leibesfruchtfolge gesteht und von ihrem Liebsten gleichwohl liebend angenommen wird. Ein Plädoyer für freie Liebe – und expressionistische Musik. Was Schönberg an dialogischen Steigerungen und Zuspitzungen anlegt, treibt das Ensemble auf die Spitze unbedingt impressiver Expression. Eine Gratwanderung, die so berückt, weil sie die nachtschwarzen und nachtleuchtenden Abgründe aufzeigt, menschlich ebenso wie musikalisch am Rand des Möglichen.
Sehnsucht ist solcher Modus, der auch Tschaikowsky im “Streichqartett Nr. 3, op. 30” umtreibt. Manchmal erfüllt sie sich, manchmal aber auch nicht. Und das Ensemble weiß das nicht nur, sondern lenkt das gefühlsschwankende Schiff sicher durch Scylla und Charybdis konträrer Emotionen. Dmitri Schostakowitsch hat seinem “Streichquartett Nr. 1, op 49” schon vorab die Spitzen genommen, die er gleichwohl komponiert: “Ich ging davon aus, dass nichts daraus wird”, schreibt er. Und dennoch flirrt es auf den Saiten der Orchesterakademie zwischen den ganz großen Emotionen und Impressionen.
Bleibt irgendwo dazwischen Tôru Takemitsus “Toward the Sea III” für Altflöte und Harfe. Takemitsu, der leise Großes Lostreter, der Meister der arhythmischen Klangmalerei. Ein Impressionist mit der Expression quasi am unauffälligen Rande, wenn Jean-Christophe Maltot und Jie Zhou beweisen, dass das Wasser doch Balken hat, tief symbolische und solche zum impressiv expressiven Mitträumen. (jm)