66. Int. Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2016
Deutschland 1966 – Filmische Perspektiven in Ost und West
Die Festivalsektion Retrospektive der 66. Internationalen Filmfestspiele Berlin warf einen fokussierten Blick auf den ost- und westdeutschen Film im Jahre 1966. Ein „Wendepunkt im deutschen Kino“, urteilt Sektionsleiter Rainer Rother in seinem Vorwort zur diesjährigen Retrospektive: Während in der DDR nach dem berüchtigtem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED gut 50% der für das Kinojahr 1966 geplanten Filme der DEFA verboten oder auf Eis gelegt wurden, durften vier Jahre nach dem Oberhausener Manifest westdeutsche Produktionen des „jungen deutschen Films“ auf internationalen Festivals erste Erfolge feiern und auch in der Heimat zunehmende Aufmerksamkeit genießen.
Anhand eines beeindruckenden Kataloges von 20 Langfilmen und dreißig kurzen oder mittelangen Filmen zeigt die Retrospektive Unterschiede und Gemeinsamkeiten des deutsch-deutschen Filmschaffens. Während sich die (verbotenen) DDR-Produktionen (kritisch) mit dem sozialistischen Alltag beschäftigen, arbeiten sich die BRD-Filme oft an den bereits schon wieder verfestigten Strukturen der jungen Republik ab. Gemeinsam ist den Filmen die Aufbruchsstimmung der Sechziger, die Lust am Experiment und Wagnis. Dass die Filmemacher aus Ost und West sich praktisch nicht gegenseitig wahrnehmen konnten, ist ein Jammer. „Der verpassten Chance einer wechselseitigen Rezeption setzt die Retrospektive eine Zusammenschau entgegen“, so das Motto von Rainer Rother und seinem Team.
Die folgenden vier Kurzbeschreibungen stellen natürlich nur eine kleine, nicht wirklich repräsentative Auswahl dar. Der Katalog der Retrospektive 2016 (als PDF) ist ein wunderbarer Anreiz, sich die auf Datenträger verfügbaren Filme anzuschauen.
Heiner Carows Verfilmung von Benno Pludras DDR-Kinderbuchklassiker „Die Reise nach Sundevit“ ist weit mehr als nur ein Kinderfilm. Der Film atmet die Aufbruchsstimmung der Sechziger, gedreht in der Sehnsuchtslandschaft der DDR, der Ostseeküste. Mal abgesehen davon, dass man aus einer schönen Küstenszenerie wie dem Darß, Rügen oder Hiddensee eigentlich gar nicht weg möchte, scheint es für Tim, den halbwüchsigen Sohn des Leuchtturmwärters, ohnehin kein Halten und keine Grenzen zu geben. Ob zu Fuß, mit dem Rad, der Kutsche, Motorrad oder Schiff: „Die Reise nach Sundevit“ ist ein Road-Movie durch Dünen, über den Strand oder eben mitten durchs militärische Sperrgebiet. Der kleine Strolch bringt doch tatsächlich die übenden Kanonen zum Schweigen und wird mit dem Schützenpanzer aus der Gefahrenzone transportiert. Ralf Strohbach in der Rolle des strohblonden, pfiffigen Tim spielt mal eben alle erwachsenen Kollegen an die Wand. Sein Charme und seine Chuzpe wirken auch heute frisch und natürlich. Kein Wunder, dass selbst der zunächst strenge VoPo ihm die Sperrgebietsverletzung nachsieht, denn Tim will doch nur seinen Jungpionier-Freunden hinterher nach Sundevit. Sein gutmütiger Hilfswille an allen genossenschaftlichen Ecken hat ihn allerdings in Verzug gebracht. Am Ende klappt es noch mit der Reise, und Tim wird natürlich für seine Loyalität belohnt. Nicht materiell, sondern mit einer gefestigten Freundschaft.
Still aus „Die Reise nach Sundevit“ von Heiner Carow (Fotos: Berlinale)
Dokumentarfilmer und Maler Jürgen Böttcher wagte 1966 ein filmisches Experiment, das erst 1990 sein verspätetes, glückliches Ende finden sollte. Zunächst wurde das Projekt „Jahrgang 45“ auf Basis des scheinbar harmlosen Skripts von den Filmfunktionären durchgewunken. Doch als der „Hauptverwaltung Film“ klar wurde, dass Böttcher auf Erzählkonventionen pfiff, zusammen mit Kameramann Roland Gräf Szenen an realen, ungeschönten Schauplätzen in Berlin improvisierte und lediglich durch eine vage Rahmenhandlung verband, wurde das Projekt vor der Fertigstellung gestoppt. Bei genauerer Betrachtung ist die Geschichte von Al(fred) und Li(sa) auch nicht gerade gradlinig systemkonform. Die Beziehung der beiden Jungverheirateten scheint gescheitert. Al ist nicht wirklich zufrieden, weiß aber nicht warum und lässt sich ziellos durch die Stadt treiben. Er trifft Freunde, hängt ab, flirtet. Wir bekommen eine Menge Alltägliches rund um den Prenzlauer Berg zu sehen, bevor sich doch der erzählerische Bogen schließt, Al wieder bei Li landet und eine gemeinsame Zukunft wahrscheinlicher wird.
Für die HV Film roch das verdächtig nach westlicher Dekadenz, das Filmmaterial wurde eingelagert, das Projekt beendet. Erst 1990 wurde die endgültige Schnittfassung abgeschlossen und der Film der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dieser radikal-schöne, formal freie und poetische Film ist ein Must-See des deutschen Films, der sich auf Augenhöhe mit dem internationalen Kunst-Kino der 60er Jahre bewegt.
Still aus „Jahrgang 45“ von Jürgen Böttcher
Experimentalfilmer in der BRD mussten zwar keine Zensur durch eine allmächtige Kulturbehörde fürchten, allerdings entstand Avantgarde doch eher im geschützten und finanziell unterstützten Umfeld von Filmschulen oder als freie Arbeiten. Die Retrospektive stellte zwei Arbeiten aus der Münchner Filmszene in einem Programm zusammen. Die kurze Mockumentary „… und dann bye bye“ macht sich auf parodistische Weise über die spießigen Ansichten von Normalbürgern über die Beatnicks und insbesondere deren auffälligstes Merkmal, die langen Harre, lustig. Quasi-dokumentarisch begleiten wir den langmähnigen Protagonisten durch seinen Alltag und bei seinem zum Scheitern verurteilten Versuch, unter Beibehaltung seiner hippiesken Identität eine Tischlerlehre zu beginnen. Inszenierte Szenen wechseln sich mit Straßen-Interviews und Münchner-Szene-Footage ab. Charmant.
Still aus „… und dann bye bye“ von Marran Gosov
Auch gab es im „Münchner Programm“ eine seltene Gelegenheit, Vlado Kristls Experimentalfilm-Legende „Der Brief“ zu sehen. Was waren das noch für Zeiten, als das Kuratorium junger deutscher Film ein experimentelles Projekt auf Basis einer äußerst vagen, zweizeiligen Inhaltsangabe förderte? Vlado Kristl, so heißt es, sei mit dem Film selbst nicht mehr so glücklich. Der 80-Minüter ist in der Tat auch eine physische Herausforderung: In langen Passagen wird die 16 mm Handkamera ruhelos durch die Gegend geschwenkt, dem Auge keine Pause gegönnt. Aus dem Off werden pausenlos scheinbar wirre Aphorismen geplärrt und die (inszenierten) Bilder einer Gesellschaft im Bürgerkrieg kommentiert. Man muss sich schon sehr bewusst auf diesen anarchischen Spaß einlassen. Dann aber funktioniert er auch als kurzweiliger, grotesker Bilderbogen mit Momenten pointierter Gesellschaftskritik. So ganz nebenbei hat Kristl mit Kameramann Wolf Wirth wohl die meisten damaligen Münchner Filmschüler und Filmemacher auf Zelluloid gebannt, siehe Besetzungsliste.
Still aus „Der Brief“ von Vlado Kristl
Es hätte noch so viel zu sehen und entdecken gegeben. Die Retrospektive allein ist ja immer schon ein Festival in sich und wäre definitiv schon den Besuch der Berlinale wert gewesen. Der Reichtum an faszinierenden, experimentellen, poetischen und spannenden, deutschen Filmen in einem Zeitraum von nur ein, zwei Jahrgängen ist erstaunlich. Was für eine Vielfalt auf höchstem künstlerischem Niveau! Auch nachträglich immer noch beklagenswert, dass zumindest die eine Hälfte dieses Filmschaffens keine Chance hatte, internationale Aufmerksamkeit zu ernten. (dakro)
„Reise nach Sundevit“, DDR 1965/66, 70 min., 35 mm, s/w; Regie: Heiner Carow; Buch: Heiner Carow, Benno Pludra, nach der gleichnamigen Erzählung von Benno Pludra; Kamera: Jürgen Brauer; Schnitt: Erika Lehmphul; Ton: Max Sandler; Musik: Karl-Ernst Sasse; Darsteller: Ralf Strohbach, Siegfried Höchst, Horst Drinda, Arno Wyzniewski, Ralph Borgwardt
„Jahrgang 45“, DDR 1966/1990, 94 min., 4K DCP, s/w; Regie: Jürgen Böttcher; Buch: Klaus Poche, Jürgen Böttcher; Kamera: Roland Gräf; Schnitt: Helga Gentz. Ton: Peter Foerster. Musik: Henry Purcell, Wolf Biermann, Matthias Suschke; Darsteller: Monika Hildebrand, Rolf Römer, Paul Eichbaum, Gesine Rosenberg, Holger Mahlich, Werner Kanitz, Ruth Kommerell, Richard Rückheim
„… und dann bye bye“, BRD 1966, Kurzfilm, 16 mm s/w; Regie: Marran Gosov
„Der Brief“, BRD 1966, 80 min., DCP, s/w; Regie: Vlado Kristl; Buch: Vlado Kristl; Kamera: Wolf Wirth; Kamera-Asssistenz: Petrus Schloemp; Schnitt: Eva Zeyn; Musik: Gerhard Bommersheim; Darsteller: Vlado Kristl, Horst Acher, Horst Manfred Adloff, Peter Berling, Boris Borresholm, Peter Breuer, Mechthild Engel, Wolfgang Ebert, Otmar Engel, Maria Fischer, Hannes Ganz, Peter Genée, Chrestian Girardet, Eva Hofmeister, Marianne Höger, Christian Holenia, Jelena Kristl, Hermann Kröger, Walter Krüttner, Brigitte Laregh, Klaus Lea, Klaus Lemke, Kurt Linda, Karl Meurer, Janko Minowski, Barbara Moorse, George Moorse, Helene von Münchhofen, Sven Nykvist, Christian Rischert, Peter Schamoni, Thomas Schamoni, Ulrich Schamoni, Viktor Schamoni