55. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2005

Chronik eines angekündigten Todes

„Sophie Scholl – Die letzten Tage“ (Marc Rothemund, D 2004)

Wenn die Süddeutsche Zeitung nicht wäre, hätte es diesen Film vielleicht nie gegeben. Am 60. Jahrestag der Ermordung von Sophie Scholl, dem 22. Februar 2003, las Regisseur Marc Rothemund in einem SZ-Artikel, dass die Gestapo-Vernehmungsprotokolle der Widerstandsgruppe „Die Weiße Rose“ jahrzehntelang unzugänglich in den Archiven der DDR-Staatssicherheit gelegen hatten. Die Idee, sich diese Protokolle zur Entstehung eines Film über die letzten Tage im Leben Sophia Magdalena Scholls zunutze zu machen, besprach Rothemund sogleich mit Fred Breinersdorfer, dem späteren Drehbuchautor. „Schulfunk!“ winkte Breinersdorfer zunächst ab.

Tatsächlich basiert der Film auf 60 Seiten Täterprotokoll. Aber er setzt noch vorher an, am Vorabend des Tages, an dem Sophie und Hans Scholl im Hauptgebäude der Ludwig-Maximilians-Universität München denunziert und verhaftet werden. Sophie darf noch etwas Swing im „Feindsender“ hören, auf selbstgemachte Marmelade von Muttern hoffen; auch in die Druckerei der Weißen Rose wird der Zuschauer geführt. Nur handelt es sich hier nicht um einen Thriller, an dessen Ende vielleicht doch noch die Guten siegen. Die folgenden Ereignisse und insbesondere das Ende sind in ihrer Grässlichkeit durch die Historie vorgegeben. Wie findet (oder besser: wie bindet) ein solches Werk seine Zuschauer – jenseits eines Pflicht-Interesses der historisch Bewussten und politisch Korrekten?

Sicher ist, dass man über Ausformungen des Widerstands gegen die Nationalsozialisten und den Weg der couragierten jungen Ulmerin und ihrer Gefährten nie genug erfahren kann. Doch Regisseur Rothemund vollbringt in „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ das Kunststück, das Dokumentarische nicht zum Korsett werden zu lassen, obwohl es allgegenwärtig ist. Immer wieder kann der Zuschauer für kurze Momente Hoffnung schöpfen: Gleich öffnen sich die Hörsaal-Türen, vielleicht können die Scholls doch in der Menge untertauchen? Der Entlassungsschein ist schon so gut wie unterschrieben, vielleicht kommen sie doch noch frei? Fast jede der 117 Filmminuten ist bis ins Detail dokumentarisch belegt; weite Strecken des Films sind minimalistisch gestaltet … und trotzdem entsteht Emotionalität, ist man „mittendrin“.

Julia Jentsch gewann als Darstellerin der Sophie Scholl einen silbernen Bären (Foto: Berlinale)

Letzteres liegt vor allem an der grandiosen Verkörperung Sophie Scholls durch Julia Jentsch. Man kann sich mit der Hauptfigur identifizieren und sie gleichzeitig als Heldin verehren, dank Jentsch‘ verhaltenem, wohl dosiertem, intensivem Spiel, für das sie als beste Darstellerin mit dem Silbernen Bären geehrt wurde. Einen ebenbürtigen Widerpart hat sie in Alexander Held, der Robert Mohr, dem Offizier der Geheimen Staatspolizei und Verhörer Sophie Scholls, zwielichtige Gestalt verleiht. André Hennicke hingegen als Blutrichter Roland Freisler muss den Unmenschen verkörpern und tut dies täuschend echt. „Warum lasst ihr den Freisler so milde davon kommen?“, soll der letzte Überlebende aus dem Kreise der Weißen Rose, Franz Müller, gefragt haben, nachdem der Film ihm vorgeführt worden war.

Wie sieht man den Film ohne jegliches Hintergrundwissen über die Geschichte der Weißen Rose? Als fein gespanntes, minimalistisches Charakterdrama, ja geradezu Kammerspiel, das neugierig macht auf die Hintergründe, das Geschichtsinteresse weckt. So haben beide viel davon: die, denen das Schicksal der Sophie Scholl spätestens seit Schultagen vertraut ist, und die, denen der Name nichts sagte. Und für alle Neugierigen: Im Fischer Taschenbuchverlag sind unter dem Titel des Films die Verhörprotokolle der insgesamt 25 Stunden Vernehmung Sophie Scholls erschienen. Wie schon festgestellt: Über sie kann man nie genug erfahren. (Marion Holtkamp)

Cookie Consent mit Real Cookie Banner