AG Dokumentarfilm kritisiert NDR-Papier zu „Scripted Reality“
Die AG Dokumentarfilm, mit mehr als 875 Autoren, Regisseuren und Produzenten einer der größten Filmverbände Deutschlands, gibt der medienpolitisch interessierten Öffentlichkeit ein NDR-internes Papier zur Kenntnis, das die Möglichkeiten pseudo-dokumentarischer Formate im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auslotet. „Scripted Reality“ heißt dieses bislang nur von privaten Fernsehsendern gepflegte Format. Die AG DOK sieht darin einen weiteren Schritt zur Boulevardisierung öffentlich rechtlicher Programme und eine Abkehr vom eigentlichen Programmauftrag. Auch die Tendenz, gesellschaftliche Wirklichkeit immer seltener in solide recherchierten Dokumentarfilmen und Dokumentationen aufzuarbeiten, sondern sie in einer inflationierenden Zahl von Talkshows zu zerreden, hält die AG DOK für kritikwürdig.
Dokumentarfilm – nein danke: NDR will die Wirklichkeit mit Pseudo-Dokus verbiegen: AG DOK veröffentlicht internes NDR Papier
Weil sich erfundene Geschichten „im Doku-Stil“ vor allem bei RTL „sehr quotenstark entwickelt“ haben und sie zudem „zum relativ günstigen Preis“ zu haben sind, empfiehlt ein internes NDR-Papier dem öffentlich-rechtlichen Sender die Entwicklung solcher Formate.
Die AG Dokumentarfilm hat das in Presseberichten bereits auszugsweise zitierte Diskussionspapier zur Produktion von „Scripted Reality“-Programmen jetzt ungekürzt auf ihre homepage www.agdok.de gestellt. Sie reagiert damit auf eine Veranstaltung der Reihe MainzerMedienDisput, die unter der Moderation von Prof. Dr. Thomas Leif Anfang Oktober in Berlin das Thema „Die „gedopte Realität“ – Scripted Reality und neue Doku-Soaps“ öffentlich machte. Der Livestream der spannenden Diskussion in der Berliner Landesvertretung Rheinland-Pfalz ist unter www.livestream.com/netzwerkrecherche/ anzusehen. Auf der Webseite der AG DOK berichtet Jeanette Eggert über die Veranstaltung (www.agdok.de/de_DE/news/126937/hpg_detail).
„Die deutschen Gebührenzahler sollen ruhig wissen, wie sehr öffentlich-rechtliche Programm-Macher inzwischen von der Quotengier des Privatfernsehens infiziert sind“, kommentiert AG DOK-Vorsitzender Thomas Frickel die wortgetreue Veröffentlichung des NDR-Papiers durch den Verband. Imitate wie Glibber-Schinken und Analog-Käse täuschen die Verbraucher ebenso wie gespieltes Anwalts- oder Polizistenleben, das die NDR-Planer für öffentlich-rechtlich sendbar halten. Wenn das Publikum an billige Pseudo-Dokus gewöhnt wird, könnte die beobachtete und recherchierte Wirklichkeit auf der Strecke bleiben.
Erst kürzlich hat der Verfassungsrechtler Prof. Paul Kirchhoff den öffentlich-rechtlichen Sendern in einem von ihnen selbst bestellten Gutachten ins Stammbuch geschrieben, dass sie ihr Programm „in Unabhängigkeit von Einschaltquoten und ohne Ausrichtung des Programms auf Massenattraktivität“ zu gestalten haben.
Wer es für erstrebenswert hält, dass erfundene Geschichten „zumindest vom Zuschauer von echten dokumentarischen Formaten kaum unterschieden werden können“, sägt damit noch ein Stück mehr an den höchsten Werten öffentlich-rechtlicher Programmphilosophie: Qualität und Glaubwürdigkeit. Die Unterscheidbarkeit zwischen den beiden Polen des dualen Rundfunksystems wird durch solche Ideen vollends eingeebnet: das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist dabei, sich selbst überflüssig zu machen.
Bezeichnend ist zudem der Hinweis auf die niedrigen Produktionskosten dieses pseudo-dokumentarischen Laienspiels. Seriöses dokumentarisches Fernsehen verursacht zwar schon seit Jahren die niedrigsten Produktionskosten aller Programmsparten, die Wirklichkeit ist den gebührenfinanzierten Sendern aber offenbar immer noch zu teuer.
Die AG Dokumentarfilm fordert die Intendanten der ARD daher auf, solchen Plänen eine Absage zu erteilen und sich deutlich zum Erhalt des Dokumentarfilms und der dokumentarischen Formate in den von ihnen verantworteten Programmen zu bekennen. Auch Überlegungen, die Montags-Dokumentation im ARD-Hauptprogramm einer weiteren Talkshow zu opfern, weisen in die falsche Richtung. Der mit der anstehenden Programmstrukturreform im Ersten verbundene „overkill“ an Talk-Formaten führt zur weiteren Verarmung der Programmvielfalt, weil er gründliche Recherche, präzise Umsetzung und dokumentarische Sorgfalt auf dem Altar der Eitelkeiten von Talk-Mastern und ihrer ewig gleichen Gästen opfert. Tägliche Talkrunden können die intensive Beschäftigung eines Dokumentarfilmautors mit wichtigen gesellschaftlichen Themen nicht ersetzen. Auch dann nicht, wenn der Moderator für eine einzige Sendung ein Vielfaches dessen bekommt, was ein Dokumentarfilmer für die monatelange Arbeit an seinem Film erwarten kann.
(nach einer Pressemitteilung der AG DOK)