69. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2019
Fortuna ist blind, aber nicht unsichtbar
„Es hätte schlimmer kommen können – Mario Adorf“ (D 2019, Dominik Wessely)
Mario Adorf – wenn dies nicht ein echter Name wäre, hätte man ihn als Künstlernamen erfinden müssen. Der Nachname Adorf stammt von der Mutter, Alice, einer Röntgenassistentin in Zürich. Der klangvolle italienische Vorname hat wohl damit zu tun, dass der Vater Italiener ist. Als Mario zwei Jahre alt ist, geht seine Mutter mit ihm zurück in ihren Heimatort Mayen in der Eifel. Sie bringt die Familie als Näherin durch; über 80 Jahre später bekommt Mario Adorf sogar noch ihre Nähmaschine zum Laufen. Vor der Kamera erklärt er die nächtlichen Geräusche, die für ihn als Jungen ganz selbstverständlich waren: Klacken, Surren, Schnippen … Die Mutter arbeitete oft bis in die frühen Morgenstunden. Dass Mario irgendwann dem HJ-Jungvolk beitrat, ohne vorher bei ihr um Erlaubnis zu fragen, habe die Mutter sichtlich irritiert. Und als er mal nicht ins Bett gehen wollte, flog halt die Schneiderschere und blieb neben ihm in der Tür stecken.
Großer Mime: Mario Adorf (Foto: Ralf Weber / Coin Film)
Szenen wie diese mögen verwegen klingen, aber Adorf erzählt ganz unaufgeregt von seiner Kindheit, egal, ob es um seine Zeit im Kinderheim, Schultage ohne Frühstück oder die Bombennächte in der Mayener Schlossruine geht. Ist ja auch alles schon lange her. Adorf wurde im September 1930 geboren und geht während seiner Berlinale-Auftritte somit auf die 89 zu – geschmeidigen Schrittes allerdings. „Ich überlasse mich dem Alter, ohne es zu bekämpfen“, sagt er bei der Pressekonferenz. Und dass er sich diesen Film nicht „gewünscht“, aber dann doch gern mitgemacht habe. Dominik Wessely, der Regisseur und Drehbuchverfasser, schwärmt davon, was für ein guter Erzähler Adorf sei. Und Herbert Schwering, einer der beiden Produzenten, beschreibt, dass er sich auch deshalb für diese Dokumentation engagiert habe, weil er den Menschen Adorf aufgrund eines tragischen Ereignisses bei einem früheren Filmdreh, im Rahmen dessen sich Adorf menschlich vorbildlich verhalten habe, besonders wertschätze.
Was immer Schwering genau meint und ob der Gesamtklang der Sympathie in Film und Pressekonferenz tatsächlich stimmt – so fernsehkompatibel und liebevoll-konventionell die Adorf-Dokumentation ist: Sie gewährt einen Blick auf Schätze der deutschen Film- und Fernsehgeschichte. Seinen Durchbruch hatte Adorf 1957 mit Robert Siodmaks „Nachts, wenn der Teufel kam“. Für seine Darstellung eines psychopathischen Frauenmörders zu Zeiten des Nationalsozialismus erhielt der junge Adorf den Bundesfilmpreis für die beste männliche Nebenrolle. In Schlöndorff/von Trottas „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1975) ist Adorf der Kommissar Beizmenne, in „Die Blechtrommel“ stellt er Alfred Matzerath, den Vater des Protagonisten Oskar, dar. Adorf: der Schurke, der Einfältige, der Charakterdarsteller, für Actionfilme ebenso einsetzbar wie für Komödien. Der mit Fassbinder drehte, aber auch mit Dieter Wedel. Adorf, der als Action-Darsteller seine Stunts früher selber spielte – auch, weil man kaum jemanden mit seiner Statur als Double gefunden habe. In Italien drehte er besonders viel und lebte über 30 Jahre in Rom; alte Freunde kommen wie selbstverständlich vorbei, als für die Dokumentation an seinem früheren Wohnhaus gefilmt wird. Adorf, dem man den Boxer ebenso abnimmt wie – in späteren Jahren – den Grandseigneur. Einen beruflichen Ausflug nach Hollywood gab es ebenfalls. Als er dort allerdings nur noch als Mexikaner besetzt werden sollte, fand er die Angebote dann doch nicht interessant genug.
Eigentlich hatte Adorf Kunstmaler, am liebsten jedoch Bildhauer werden wollen. Die Faszination dafür strahlt er noch heute aus. Warum er es nicht geworden ist? Weil man 1950 an so etwas wie Farben, Pinsel und Leinwand nur unter privilegierten Bedingungen und mit viel Geld herangekommen sei. Um Schauspieler zu werden hingegen habe es keiner größeren Geldmittel bedurft. Am renommierten Otto-Falckenberg-Institut, der Schauspielschule der Münchner Kammerspiele, stürzte Adorf beim Vorsprechen aus Schillers „Wallenstein“ ganz buchstäblich von der Bühne. Kein Geringerer als der legendäre Theaterintendant Hans Schweikart allerdings attestierte ihm eine seltene Kombination von „Kraft und Naivität“, so dass Adorf dann doch aufgenommen wurde. Der junge Adorf blieb dem Schauspielunterricht allerdings so manches Mal fern und besuchte stattdessen die Theaterproben – was ihm bald eine erste Statisten-Rolle einbrachte. Die Gelegenheiten, die sich einem bieten, dürfe man nicht vorüber ziehen lassen – „Fortuna ist blind, aber nicht unsichtbar“, so Adorfs Credo.
Senta Berger und Mario Adorf (Foto: Coin Film)
Die 60er Jahre seien „leichtlebig“ gewesen, viel „dolce vita“und ein Filmdreh nach dem anderen. In diese Zeit fallen auch die Jahre seiner Ehe mit der Schauspielerin Liz Verhoeven – in Wesselys Dokumentation kommt diese allerdings nicht vor, genauso wenig wie die gemeinsame Tochter Stella Maria, ebenfalls Schauspielerin. Mit Schwägerin Senta Berger plaudert Adorf über Hollywood-Erinnerungen, was für Stars wie Charlton Heston und den Produzenten Sam Spiegel nicht gerade schmeichelhaft ausfällt. Über Brigitte Bardot hat Mario Adorf seine spätere langjährige Ehefrau Monique kennen gelernt – im Film tritt die schöne Blonde nur dezent im Hintergrund, ohne Worte, in Erscheinung.
In Adorfs fast 90-jährigem Leben gibt es so viele illustre Ereignisse, dass die 98 Minuten der Dokumentation sowieso problemlos gefüllt werden könnten. Wessely lässt aber über den Film hinweg unabhängig von den zahllosen Fotoansichten, Filmausschnitten und Begegnungen eine ruhige Erzähl-Atmosphäre entstehen, in der Mario Adorf zu voller Form aufläuft – wie sollte es anders sein? Die Theaterbühne hat dieser nach eigener Aussage zwar schon seit eineinhalb Jahrzehnten zurückgelassen, aber ganz ohne Bühne geht es natürlich nicht: Ab Mitte Mai 2019 tourt Mario Adorf mit seinem Programm unter dem Titel „Zugabe“ lesend, erzählend und singend durch die Republik. Und im Herbst kommt „Es hätte schlimmer kommen können“ ins Kino – in der Hauptrolle ein „Eifelbauer“ und zugleich „gelebter Europäer“, so Adorf über sich selbst. Eine in seinem Fall glaubwürdige Kombination. Und wenn schon – so viel Selbstinszenierung muss im Zweifelsfall erlaubt sein. (gls)
„Es hätte schlimmer kommen können – Mario Adorf“. D 2019, 98 Min., Regie: Dominik Wessely, mit: Mario Adorf, Senta Berger, Margarethe von Trotta, et al.