66. Int. Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2016
Zwei Männer in einem Boot
„Théo et Hugo dans le même bateau“ (Jacques Martineau, Olivier Ducastel, F 2016)
Ein kleiner Club in Paris, im Keller ein Darkroom. Gut gebaute Männer im ekstatischen Clinch. Blicke treffen sich, Worte sind keine nötig. Zwei sehen sich jedoch lange und tief in die Augen, werden intim miteinander und verlassen dann gemeinsam den Sex-Club.
So anonym und lustgesteuert die beiden jungen Männer sich auch begegnen, zwischen Théo und Hugo springt ein Funke über. Zögerlich und tastend entwickelt sich das Gespräch bei der Fahrradfahrt durch das nächtliche, stille Paris. Der Beginn einer Romanze vielleicht. Doch die Situation schlägt plötzlich um, als herauskommt, dass der Geschlechtsverkehr ungeschützt war und Hugo HIV-positiv ist. Es besteht akute Gefahr der Ansteckung. Théo macht sich zunächst allein zum Sofort-Test ins Krankenhaus auf. Hugo folgt ihm, will mit Informationen zu seiner Krankengeschichte helfen.
Moderne Romanze: Erst der Sex im Darkroom … (Fotos: Berlinale)
Die Co-Regisseure Jacques Martineau und Olivier Ducastel vertrauen in „Théo et Hugo dans le même bateau“ auf den natürlichen Charme ihrer Hauptdarsteller Geoffrey Couët (Théo) und François Nambot (Hugo). Ihnen gehört der Film ganz und gar, wir begleiten die Beiden quasi in Echtzeit beim Beginn einer Romanze mit Hindernissen. Sehr feinfühlig halten Martineau und Ducastel den Ausgang ihrer Geschichte in der Schwebe. Dabei ist ihr Film mitnichten ein inhaltliches Leichtgewicht. Aus der zunächst ungewöhnlichen, aber auch beiläufigen Begegnung im Sex-Club wird durch eine kleine Unachtsamkeit schnell ein existenzieller Diskurs über Vertrauen und Verantwortung. Théo und Hugo überspringen gezwungenermaßen die klassischen Phasen einer Beziehung.
… dann das Kennenlernen unter ernsten Bedingungen
Richard Linklaters „Before Sunrise“ (USA 1995) weist ein paar interessante Parallelen auf, die auch zeigen, wie sich in den letzten 20 Jahren die Beziehungsanbahnungen verändert haben. In „Before Sunrise“ lernen sich Jesse und Céline zufällig in Wien kennen und verbringen die Nacht diskutierend bei einem Spaziergang durch die Stadt. Vielleicht gibt es Sex am Ende der Nacht, wir erfahren es nicht. Geschweige denn, dass wir Sex zu sehen bekommen. Am nächsten Morgen trennen sich die Wege der beiden. Es bleibt offen, ob sie sich je wiedersehen.
„Théo et Hugo dans le même bateau“ kann man auch als eine Art Update der modernen Kino-Romanze sehen. Sex gibt es nicht etwa erst am „Third Date“ sondern gleich zur Eröffnung und dazu noch visuell explizit und in voller Länge. Das ist in Zeiten von Dating-Apps sicherlich realitätsnah. Die Emotionen müssen dann halt nachziehen. Und da bleibt ganz klassisch Vorsicht die Mutter der Porzellankiste: Vertrauen will erarbeitet sein, und Esprit ebnet auf der intellektuellen Ebene den Weg zu einer gemeinsamen Zukunft. Ob das auch bei Théo und Hugo nach der ernsten Katastrophe klappt, bleibt offen. Aber man wünscht es Ihnen. Schließlich sitzen sie ja in einem Boot. (dakro)
„Théo et Hugo dans le même bateau“, Frankreich 2016, 97 Min., DCP, Farbe; Regie & Buch: Olivier Ducastel, Jacques Martineau; Kamera: Manuel Marmier; Schnitt: Pierre Deschamps; Darsteller: Geoffrey Couët; François Nambot; Produktion: Ecce Films, Paris. Der Film gewann bei der Berlinale 2016 in der Sektion Panorama den Teddy-Publikumspreis.