66. Int. Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2016
Ein Mann gegen den sozialen Horror
„Lao Shi“ (Johnny Ma, VRC/CAN 2016)
Eine alte Frau liegt zusammengebrochen am Rand der Straße, bewegungslos. Schnell bildet sich eine Traube von Menschen, Handys werden gezückt, doch niemand ruft tatsächlich die Ambulanz. Man ist sich schnell einig, das könnte Ärger bedeuten. Besser schnell weitergehen, sich nicht einmischen. Die Frau bleibt bewusstlos am Boden zurück.
Ein Taxifahrer beobachtet aufmerksam das Geschehen aus einem Auto auf der anderen Straßenseite. Seine Reaktion lässt sich nicht einschätzen. Wenig später wird ein angetrunkener Fahrgast in sein Taxi steigen, ihm während der Fahrt ins Lenkrad greifen und damit einen Verkehrsunfall mit schweren Folgen verursachen. Lao Shi (Chen Gang), so der Name des Taxifahrers, bringt unverschuldet einen Motorradfahrer zum Sturz. Er ruft die Ambulanz für den Schwerverletzten, doch die lässt auf sich warten. Schließlich entscheidet sich Lao Shi gegen den Rat der Umstehenden, den Verletzten selbst ins Krankenhaus zu fahren. Eine Entscheidung mit schwerwiegenden Folgen. Nicht nur muss Lao-Shi die Erstbehandlung gleich an der Krankenhauskasse begleichen, der Motorradfahrer fällt ins Koma ohne Besserungsaussichten. Mit unerbittlicher, menschenverachtender Logik beginnt für Lao-Shi der soziale Abstieg: Die Taxi-Versicherung will die Behandlungskosten nicht übernehmen, weil Lao Shi nicht am Unfallort blieb und einfach abgewartet hat. Sein Chef feuert ihn, weil er für die Firma nicht mehr tragbar ist. Lao Shis Frau distanziert sich ebenfalls von ihm und leert noch schnell seine Konten.
Der letzte Mann mit Zivilcourage: Lao Shi (Foto: Berlinale)
Die chinesische Gesetzgebung und Unfall-Versicherungsklauseln fördern das Unterlassen von Hilfeleistung. Niemand will sich in die Gefahr begeben, für Unfallopfer verantwortlich zu werden und ein Leben lang die medizinischen Folgekosten zu tragen. Die grausame Konsequenz: Unfallfahrer setzen bei Unfällen mit Schwerverletzten zurück und überfahren das Opfer noch einmal. Lieber nehmen sie die Strafe für einen Unfall mit Todesfolge in Kauf, als zu zahlen. Es würde ihr Leben ruinieren.
Das Langfilmdebut des kanadisch-chinesischen Regisseurs Johnny Ma begnügt sich aber nicht mit einem Sozialdrama zum Thema. Schon im ersten Drittel der Geschichte injiziert Ma durch eine geschickte Verschachtelung der Zeitebenen einen Schuss Thriller in seinen Film. Lao Shis einzige Chance, zu sich und den Fahrgast zu finden und eine Zeugenaussage zu bekommen. Nach hartnäckiger Recherche findet er den Mann, nur um vom ihm bedroht und die Treppe hinuntergestürzt zu werden. Lao Shi wähnt sich allein und am Ende. Nachdem ihm alle Beteiligten eingeredet haben, das Unfallopfer wäre besser tot, beginnt er selbst zu glauben, dies sei der einzige Ausweg. Doch sein Versuch, den Motorradfahrer durch Abschalten der lebenserhaltenden Apparaturen ins Jenseits zu befördern, gibt der Geschichte die nächste Wendung, hin zu schwarzhumorigem Splatter: Der Motorradfahrer erwacht prompt aus seinem Koma und ist wundersamer Weise bald wieder auf seinem Zweirad unterwegs. Trotzdem muss Lao Shi weiter für den Dauergeschädigten zahlen. Er wird einen weiteren Anlauf nehmen müssen, um sein Problem aus der Welt zu schaffen. Diesmal mit fatalem Ausgang.
Horror-Showdown auf nächtlicher Straße (Foto: Berlinale)
Mit „Lao Shi“ glückt Johnny Ma eine gleichzeitig nachdenklich stimmende und unterhaltsame Sozialstudie. So speziell die rechtliche Situation in China (und anderen Ländern) in Bezug auf Hilfeleistung sein mag, so universell ist doch die Geschichte des Gutmenschen Lao Shi. Übersetzt bedeutet sein Name „alter Stein“. Passend für einen Mann mit Zivilcourage, der unbeirrbar das Richtige tut, aber von der Gesellschaft dafür bestraft wird. Mit 80 Minuten Länge ist „Lao Shi“ sehr ökonomisch und auch kurzweilig erzählt. Mit sicherer Hand bedient sich Johnny Ma der formalen Elemente des Thriller- und Horrorfilms, ohne in die Falle zu Laufen, seine Hauptfigur und ihre Situation ins Lächerliche zu ziehen. Ein rundherum gelungenes Debüt. (dakro)
„Lao Shi“, Volksrepublik China/Kanada 2016, 80 min., DCP, Farbe; Regie/Buch: Johnny Ma; Kamera: Leung Ming Kai; Schnitt: Mike Long; Musik: Lee Sanders; Darsteller: Chen Gang (Lao Shi), Nai An (Mao Mao), Wang Hongwei (Captain), Zhang Zebin (Li Jiang), Luo Xue’er (Xue’er); Produktion: Maktup Films, Vancouver, Kanada