66. Int. Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2016
Seitenwechsel
„Auf einmal“ (Asli Özge, Deutschland/Niederlande/Frankreich 2016)
Bei den ersten Szenen dieses Films fragt man sich, ob sie nun banal oder mystisch zu verstehen sind: Eine Thirtysomethings-Party an einem Herbstabend mit einem Dutzend Leuten aus dem Freundeskreis von Karsten (Sebastian Hülk) und Laura (Julia Jentsch) in deren Wohnung. Eine unbekannte Schöne (in der Rolle der Anna: Natalia Belitski) interessiert Karsten und findet auch nach dem Verschwinden der letzten Gäste nicht den Absprung – was dieser nur zu gern hinnimmt. Beide sind angetrunken, Laura ist auf Dienstreise, die schummrige Beleuchtung unterstreicht die unwirkliche Stimmung … Doch nur wenige Minuten später bricht die nur noch leicht bekleidete Anna zusammen und stirbt vor Karstens Augen. Unter Schock versucht dieser, Hilfe zu holen, vergeblich. Bald stellt sich heraus, dass Anna keinem der Gäste bekannt war. Und Karsten muss nicht nur mit dem Tod der mysteriösen und doch begehrten Unbekannten fertig werden, sondern sich in alle Richtungen rechtfertigen: Warum hat Anna mitgefeiert, obwohl sie niemand eingeladen hatte? Was hatte Karsten anderes vor als einen Seitensprung? Warum war er zum nahe gelegenen Krankenhaus gelaufen, während er stattdessen auch einen Notarzt hätte alarmieren können – vielleicht hätte Anna dann überlebt? Die Tote stammt, wie sich zeigt, aus einer russlanddeutschen Familie. Annas Witwer strengt bald schon eine Klage wegen unterlassener Hilfeleistung gegen Karsten an – entsprechende Gerüchte verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Karsten verwickelt sich in Widersprüche, wird beruflich degradiert, Laura distanziert sich von ihm, Freunde und Kollegen stellen ihn kalt, sein Vater (Hanns Zischler) versucht, seinen Ruf allzu offensichtlich wieder hinzubiegen. Doch dann stellt Karsten fest, dass am Arm der toten Anna Blutergüsse gefunden worden waren, und macht sich auf die Suche nach einer Erklärung …
(v.l.): Lea Draeger, Luise Heyer, Sebastian Hülk, Julia Jentsch und Simnon Eckert in „Auf einmal“ (Foto: Emre Erkmen)
Regisseurin und Drehbuchautorin dieses thrillerartigen Dramasist Asli Özge, die 1975 in Istanbul geboren wurde und seit 2000 in Berlin lebt. Mit ihrem zweiten Spielfilm „Lifelong“ war sie bereits 2013 auf der Berlinale vertreten und legt mit „Auf einmal“ ihren ersten deutschsprachigen Spielfilm vor. Hatten ihre vorherigen Filme jeweils in Istanbul gespielt, verlegt Asli Özge das Setting von „Auf einmal“ hingegen in ein pittoreskes deutsches Provinzstädtchen, das sauerländische Altena. Eine gut kalkulierte Wahl – die Enge und das perfekte Äußere der Kleinstadt korrespondieren mit der Lage der Akteure.
Ebenso gut durchdacht ist die Besetzung: Keiner der Schauspieler trägt zu dick auf; die Darstellung ist verhalten und gerade deshalb so wirkungsvoll. Sebastian Hülk in der Rolle des Karsten bleibt lange undurchschaubar. Julia Jentsch, die mit dem Wettbewerbsfilm „24 Wochen“ auf derselben Berlinale eine noch ungleich größere Bühne hat, ist sowieso eine Meisterin der eindringlich-leisen Töne. Luise Heyer in der Rolle der koketten und heuchlerischen Judith, die Karsten moralische Vorwürfe macht, um selbst an ihn heranzukommen, wird nicht zur Karikatur.
Vor allem ist beeindruckend, wie geschickt Özge den Film beschleunigt, an Dynamik gewinnen lässt. Sie lässt die Handlung kippen: Von allen vermeintlichen Unterstützern verlassen, findet Karsten Hintergründe des Geschehenen heraus, dreht quasi den Spieß um und startet einen Rachefeldzug. An dessen Ende bleibt viel Rätselhaftes, aber der Zuschauer hat einen Befreiungsschlag erlebt. Und zu der klaren Ansage, die Karsten allen Beteiligten abschließend macht, passt wohl auch der Rammstein-Song im Abspann. (gls)
„Auf einmal“, D/NL/F 2016, 112 Min., DCP. Regie, Buch: Asli Özge; Kamera: Emre Erkmen; Schnitt: Muriel Breton, Asli Özge; Ton: Lars Ginzel; Produktion: EEE Productions Berlin; Darsteller: Sebastian Hülk, Julia Jentsch, Hanns Zischler; Luise Heyer, Lea Draeger, Simon Eckert, Natalia Belitski u.a.