65. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2015
Was kam nach der Weißen Rose?
„Die Widerständigen ’also machen wir das weiter …’“ (Katrin Seybold, Ula Stöckl, Deutschland 2015)
Hans Leipelt muss ein ziemlicher Schwerenöter gewesen sein. Im München der frühen 1940er-Jahre galt die Medizinstudentin Marie-Luise Jahn als seine feste Freundin, aber auch seine Mit-Studentin im Institut für Chemie, Liselotte Dreyfeldt, wurde von ihm schwanger. In Bayrisch Zell erwartete er ebenfalls Nachwuchs. Und wer weiß, wie tief seine engen Beziehungen nach Hamburg noch gingen „¦ Ilse Lepien lernte ihn dort über Freunde kennen und offenbart im Gespräch in ihrem hübschen Hamburger Akzent, dass auch sie durchaus angetan von ihm war.
Abgesehen von der betörenden Wirkung auf Frauen verfügte Hans Leipelt aber auch über die Fähigkeit und den Willen, andere für Inhalte zu begeistern. Und er war über die Maßen mutig. Zum weiter gespannten Freundeskreis der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ gehörig, organisierte er nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probsts und später Alexander Schmorells, Willy Grafs und Professor Kurt Hubers eine Spendensammlung für Hubers Witwe, die nach dem Tod ihres Mannes mit ihren zwei Kindern mittellos dastand. Gemeinsam mit Marie-Luise Jahn und vielen anderen Helfern hatte Leipelt, nachdem bekannt geworden war, dass Mitglieder der Weißen Rose – deren Namen allerdings nicht bekannt wurden! – zum Tode verurteilt worden waren, unter Lebensgefahr auf einer Reiseschreibmaschine deren Flugblätter abgetippt, abgezogen und weiter verteilt hatten – ergänzt um den Zusatz „Und ihr Geist lebt trotzdem weiter!“. Ilse Lepien tippte in unbeobachteten Momenten an einer Schreibmaschine in ihrer Hamburger Fremdsprachenschule. Liselotte Dreyfeldt packte die Flugblätter auf ihren Heimfahrten von München nach Berlin einfach tief in den Koffer unter die Schmutzwäsche – schließlich sei bekannt gewesen, dass junge, arglos und arisch wirkende Frauen kaum kontrolliert wurden. Und die 18-jährige Karin Friedrich schickte eines der Flugblätter gar per Brief an einen Freund bei der Wehrmacht – mit Absender!
Diese und unzählige andere Beobachtungen und Erinnerungen bleiben der Nachwelt nur deshalb erhalten, weil die Regisseurin Katrin Seybold auch nach Fertigstellung ihres Dokumentarfilms „Die Widerständigen – Zeugen der Weißen Rose“ (2008) ihre Mission, den Zeugen der größten Verbrechen in der deutschen Geschichte eine Stimme zu geben, unermüdlich weiter verfolgte. 63 Stunden Filmaufnahmen weiterer Gespräche hatte sie über Jahre hinweg gesammelt, als sie im Juni 2012 mit nicht einmal 69 Jahren unerwartet verstarb.
Was kann man tun, wenn schon die Zeugen der Zeugen nicht mehr leben? Die Regisseurin Ula Stöckl, Jahrgang 1938, Preisträgerin der Akademie der Künste für ihr Lebenswerk und lange Jahre mit Katrin Seybold befreundet, ist eher für feministisches Filmschaffen bekannt; ihr Erstling „Neun Leben hat die Katze“ von 1968 lief 2015 bei den Berlinale Classics. Ula Stöckl nahm sich des Filmmaterials auf Bitten von Seybolds Familie an und verarbeitete es zusammen mit dem Cutter Frank Müller, mit dem Katrin Seybold bereits für den Film von 2008 zusammengearbeitet hatte, zu einer wichtigen und auf unspektakuläre Art ergreifenden Dokumentation. Die alten, ja greisen Damen und Herren sprechen geradewegs in die Kamera, in sachlichem und oft verschmitztem Ton; nur ein einziges Mal hört der Zuschauer Seybolds Frage. Im Hintergrund Wohnzimmergemälde, Apparaturen im Chemielabor, ein Vorlesungssaal. Man habe einen Akzent auf das Persönliche und Private setzen wollen, meint Ula Stöckl. Vielleicht trägt der Film auch u.a. dadurch dazu bei, sich von der Überhöhung der bekanntesten Mitglieder der „Weißen Rose“ weg zu bewegen. Geschildert wird quasi nebenbei das sich auf immer weitere Freundeskreise ausbreitende Netzwerk von Widerstand. Von einer Widerstands-„Gruppe“ habe nicht die Rede sein können, so Ula Stöckl, das hätte alle Akteure in viel zu große Gefahr gebracht. Es handelte sich vielmehr um einzelne Persönlichkeiten, die ihr Bewusstsein, dass das Hitler-Regime weiter bekämpft werden müsse, in ihre jeweiligen vertrauten Kreise weiter trugen.
Wer genau Leipelt, Jahn und viele weitere Vertraute schließlich an die Gestapo verriet, ist bis heute nicht bekannt. Hans Conrad Leipelt, als „Halbjude“ 1940 von der Wehrmacht entlassen, studierte – wenn die Einschreibung ihm offiziell auch verwehrt war – in München bei dem Chemie-Professor und Nobelpreisträger Heinrich Wieland. Dieser hatte seine eigene Logik bezüglich der Prüfungsordnung für aus „rassischen“ Gründen nicht zugelassene Studierende: Ihr Diplom würden diese trotzdem bei ihm machen können – so Valentin Freise, der ebenfalls in Professor Wielands „Ghetto-Labor“ (!) Unterschlupf gefunden hatte. Es habe an Wielands Institut mindestens ein Dutzend Studierender mit dem Hintergrund eines „Mischlings 1. Grades“ gegeben. Professor Wieland sagte auch nach dessen Verhaftung für Hans Leipelt aus. Der abschließende Prozess fand im Oktober 1944 vor dem Volksgerichtshof in Donauwörth statt und sei, so Valentin Freise später, alles andere als ein „Schauprozess“ gewesen, da die offiziellen Stellen größeres Aufsehen in dieser Phase des Krieges wohl hatten vermeiden wollen. Leipelt wurde, u.a. wegen „Feindbegünstigung“, als Hochverräter zum Tode verurteilt; das Urteil wurde Ende Januar 1945 in München-Stadelheim vollstreckt. Marie-Luise Jahn erhielt als „durch einen Nicht-Arier Verführte“ „nur“ zwölf Jahre Zuchthausstrafe, und Liselotte Dreyfeldt beispielsweise wurde aus ähnlicher Einschätzung freigesprochen. Sie erinnert sich noch 60 Jahre später an die Stille im Gerichtssaal nach der Urteilsverkündigung.
Besonders bitter ist, dass die „Widerständigen“ im Nachkriegsdeutschland – egal, in welcher „Zone“ – weiterhin als Verräter galten. Liselotte Dreyfeldt galt nach den Maßgaben der Sowjetisch Besetzten Zone nicht als Verfolgte des Nazi-Regimes, die Witwe Kurt Hubers musste viele Jahre lang um ihre Witwenrente kämpfen, Marie-Luise Jahn blieb in tiefer Depression im Zuchthaus Aichach, als der Krieg schon vorbei war, und Traute Lafrenz-Page, die Freundin Hans Scholls, und Jürgen Wittelbach sahen keine andere Zukunft, als in die USA auszuwandern.
Zum Zeitpunkt der Aufführung der Dokumentation auf der Berlinale sind laut Ula Stöckl nur mehr vier der interviewten Personen am Leben. Die 61,5 Stunden bisher ungenutzter Filmaufnahmen werden im Filmmuseum im München verwahrt, weitere Aufzeichnungen aus dem Nachlass Katrin Seybolds befinden sich im dortigen Institut für Zeitgeschichte. Ula Stöckl betont, dass die Finanzierung der Aufarbeitung solchen Materials Mitte der 2010-er Jahre alles andere als eine Selbstverständlichkeit darstellt. Insofern mag es beinahe gut sein, dass „Die Widerständigen ’also machen wir das weiter …’“ in gewisser Weise unfertig wirkt. Denn jede der interviewten Personen hätte noch weit mehr als eine eigene Dokumentation verdient. (gls)