65. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2015

Too Much, Too Soon

„Cobain: Montage Of Heck“ (Brett Morgen, USA 2015)

Mit großen Interesse wurde die erste von der gesamten Familie Kurt Cobains autorisierte Dokumentation über den Grunge-Rock-Gitarristen und Nirvana-Mastermind Kurt erwartet: „Cobain: Montage Of Heck“ feierte im Januar seine Premiere auf dem Sundance-Festival und war im Februar in der Sektion Panorama-Dokumente auf der Berlinale zu sehen. Viel ist über Cobains Musik- und Drogenkarriere und insbesondere über sein selbstgewähltes Ableben geschrieben und gezeigt worden, die meisten biografischen Details seines kurzen, nur 27 Jahre währenden Lebens sind bekannt. Doch die kleine Sensation, dass Dokumentarfilm-Regisseur Brett Morgen ohne Restriktionen aus dem privaten Archiv des Musikers, Zeichners und Chronisten Cobain schöpfen durfte, verspricht zumindest neue Details und Perspektiven, insbesondere Cobains eigene, auf eine ungewöhnliche Biografie.
Die titelgebende „Montage Of Heck“ ist eine frühe Collage Cobains aus Fetzen von Musik und Radiosendungen und eigenen, gesprochenen Assoziationen. Morgens Film ist sicher nicht assoziativ in der Struktur, er handelt die biographischen Stationen in chronologischer Reihenfolge ab. Die glücklichen, frühen Kindertage, die Trennung der Eltern, Leben beim Vater. Als eine neue Frau in das Leben des Vaters tritt und ihre Kinder mit in das gemeinsame Heim ziehen, rebelliert Kurt, schwänzt die Schule und wird zum Sorgenkind. Der Vater liefert ihn bei der Mutter ab, Kurt fühlt sich endgültig ausgestoßen. Er entdeckt den Punkrock und gründet mit Bassist und Freund Christ Novoselic die Band „Nirvana“ . Erste Gigs finden noch im Elternhaus in Aberdeen statt, sobald ein oder zwei Kumpels auftauchen und zuhören. Doch Kurt ist ambitioniert und energetisch, obwohl er inzwischen das Gras-Rauchen entdeckt hat. Nirvana erarbeitet sich eine lokale Fan-Basis, zieht nach Seattle und kann beim legendären Indie-Label „Sub Pop“ schließlich 1989 ihre erste LP „Bleach“ herausbringen. Zwei Jahre später (inzwischen ist der heutige „Foo Fighters“ Mastermind Dave Grohl als Schlagzeuger eingestiegen) dann der explosionsartige, internationale Durchbruch mit der Single „(Smells Like) Teen Spirit“ und dem Album „Nevermind“ (1991).
Kurt Cobain privat (Foto: Berlinale)
Cobain wird von der Presse zum Sprecher einer Generation ausgerufen und gleichzeitig als depressiver Nihilist abgestempelt. Diese Label hat er stets abgelehnt und sich im Gegenzug Interviews fast durchgehend verweigert. Mit seiner späteren Frau, der Hole-Sängerin Courtney Love, zieht sich Cobain für Monate aus dem Rummel um Nirvana in ein drogengetränktes Exil zurück. Mittlerweile beherrscht ihn eine ausgewachsene Heroinsucht, die er und Love erst ernsthaft bekämpfen, als sie schwanger wird. Mittlerweile wird jeder Schritt des Paares von der Öffentlichkeit wahrgenommen, ist dokumentiert und kommentiert. Der Erfolgsdruck und die Vorwürfe, ihr ungeborenes Kind durch ihre Heroinsucht zu gefährden, lasten schwer auf Cobain und Love. Nach einer längeren Pause und der Geburt der gesunden Tochter Francis Bean scheint zunächst ein Neuanfang möglich. Mit „In Utero“ (1993) entziehen sich Nirvana musikalisch dem Mainstream und gehen erneut auf ausgedehnte Tournee. Doch in Europa stirbt Cobain fast an einer Überdosis. Die Sucht hat ihn wieder vollends im Griff. Einen Monat später erschießt er sich in seinem Haus.
Diesen letzten Monat im Leben Cobains spart „Cobain: Montage Of Heck“ respektvoll aus. Was wäre dort auch noch zu erzählen, was nicht in unzähligen spekulativen Artikeln und Dokumentationen schon ausgeschlachtet worden wäre? Morgens Film widmet sich lobenswerterweise insbesondere dem Teenager Kurt, dem Scheidungskind, dass sich unfreiwillig von den Eltern abnabeln muss, was nur um den Preis emotionaler Haltlosigkeit gelingt. Seine Pre-Nirvana Langzeitfreundin Tracy Marander stützt ihn finanziell und moralisch, dann trägt ihn die Band und schließlich Courtney Love.
Letztere kommt im Film eigentlich ganz gut weg, vielleicht ein wenig Wiedergutmachung für die jahrelange Hexenjagd auf die „Yoko Ono des Grunge“, die Nirvana angeblich auseinanderbrachte (was schon gegenüber der Lennon-Witwe in Bezug auf die Beatles eine dumme Unterstellung war) und Cobain zum Schluss im Stich ließ. Dave Grohl kam allerdings nicht zu Wort, obwohl ihm im Abspann gedankt wird. Liegt es an den Zwistigkeiten mit Courtney Love oder war nur nicht mehr genug Zeit, seine Interviews vor der Sundance-Premiere einzuarbeiten?
Technisch faszinierend sind die Animationssequenzen von Stefan Nadelman und Hisko Hulsing, in denen der junge Cobain beim Musizieren oder Rezitieren dargestellt wird. Unterlegt von originalen Demo-Tapes und Spoken-Word-Aufnahmen wirken die Sequenzen gespenstisch. Hier experimentiert ein vielseitiger Künstler, schafft sich das Rüstzeug für das Texten und Komponieren von Rock-Songs mit harten Riffs und wütend-sensiblen Texten. Cobains Zeichnung und Notizen wurden ebenfalls animiert, sie erinnern an den frühen Austin-Underground-Künstler Daniel Johnston, dessen „Hi, how are you“-Cassette Cobain lange Zeit auf dem berühmten T-Shirt bewarb.
„Cobain: Montage Of Heck“ ist keine Nirvana-Dokumentation, sondern das Portrait eines hochtalentierten, jungen Wilden, den das „Too-Much-Too-Soon“ im Pop-Business zu Fall bringt, wie man zuletzt bei Amy Whinehouse miterleben musste. Brett Morgen bebildert den Drogenabsturz mit Hi-8-Videos eines völlig zugedröhnten Musikers auf Toururlaub. Familie und Freunde können im Nachhinein nur Hilflosigkeit zu Protokoll geben. Der Film erhebt vielleicht nicht den Zeigefinger, eine deutliche Warnung ist er aber trotzdem. Brett Morgen gelingt mit „Cobain: Montage Of Heck“ eine schmerzhaft ehrliches Würdigung eines Ausnahmekünstlers und einer Ikone der Rockmusik. (dakro)
„Cobain: Montage Of Heck“ hat am 4. Mai 2015 Premiere auf dem amerikanischen Pay-TV-Sender HBO.
„Cobain: Montage Of Heck“, USA 2015, 132 Min, DCP, Farbe, Regie, Buch: Brett Morgen, Kamera: James Whitaker, Eric Edwards, Nicole Hirsch Whitaker, Schnitt Joe Beshenkovsky, Brett Morgen, Animation Stefan Nadelman, Hisko Hulsing, Musik Kurt Cobain, Nirvana, Produzenten Brett Morgen, Danielle Renfrew Behrens, Ausführende Produzenten Frances Bean Cobain, Lawrence Mestel, David Byrnes; Co-Produktion Universal Pictures, International Entertainment Content Group, London und HBO Documentary Films, Santa Monica
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