54. Internationale Filmfestspiele Berlin

Kraftvolles deutsches Kino

Gegen die Wand (Fatih Akin, D/Türkei 2003)

Deutsche Filme auf der Berlinale 2004, das war oft einen kraftvolles junges Kino: allen voran Fatih Akins neuer Film „Gegen die Wand“, der zu Überraschung der meisten den Goldenen Bären für den besten Film der Berlinale 2004 gewann. Wenn man bedenkt, dass Akins Film ursprünglich „nur“ für die Programm-Sektion „Panorama“ ausgesucht worden war und erst im letzten Moment für den Wettbewerb nominiert wurde, ist das ein besonders glücklicher Ausgang.

Sensibler Erfolgsregisseur aus Altona: Fatih Akin

Mit „Gegen die Wand“ kehrt Akin in die Welt seines Erstlings „Kurz und schmerzlos“ (1998) zurück, die Welt der so genannten zweiten Generation der Deutsch-Türken, schon in Deutschland geboren und hier ganz selbstverständlich beheimatet, wenn auch mit türkischen Wurzeln. Cahit (Birol Ünel), ein vom Leben enttäuschter Alkoholiker, badet sich in seinem Elend. Zum Schluss eines aggressiven Exzesses rast er zu Beginn der Geschichte mit seinem Ford Granada gegen eine Betonmauer – und überlebt. In der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie trifft er auf die junge Sibel (Sibel Kekilli), auch eine Selbstmordkandidatin, die sich zuvor die Pulsandern aufgeschnitten hat. Aber eigentlich will sie nur den strengen Traditionen des Elternhauses entfliehen. Sie überredet Cahit zur Scheinehe, kann daraufhin ihren wilden Freiheitsdrang mit wechselnden Liebhabern ausleben, während bei ihm wenigstens äußerlich mit Sibel ein wenig Ordnung und Miteinander in sein Leben Einzug hält. Das geht so lange gut, bis beide sich, ohne es wahrhaben zu wollen, ineinander verlieben. Cahit erschlägt im Affekt einen von Sibels Liebhabern und muss dafür längere Zeit ins Gefängnis. Voller Liebesnot und Reue geht Sibel nach Istanbul, um dort die Wartezeit auf Cahit zu überbrücken, gerät aber wieder in ein selbstzerstörerisches Fahrwasser. Die Geschichte findet kein Happy End, aber einen überraschend stillen und undramatischen Ausgang.

Der Film wandelt sich von der anfänglichen Tragikomödie immer mehr zum Melodram, ist voller Kraft und Lebendigkeit gerade in den ersten beiden Dritteln. Aggression und Drogenrausch als einzige Ausdrucksmöglichkeiten einer Gegenwehr gegen sein verpfuschtes Leben bei Cahit, blinde Lebenslust, ein in Tag-und-Nacht-hinein-sich-Vergnügen bei Sibel, die sich anfangs wie eine Lichtgestalt gegen den fast verlorenen Cahit abhebt. Das sind die Startplätze der Protagonisten. Sibel steckt Cahit schließlich mit ihrem Ja zum Glücklich-sein-wollen an, hat ihn im Grunde schon dafür gewonnen, als sie ihn zur Scheinehe überredet. Die Brautwerbung Cahits mit „seinem Onkel“ (sein bester Freund muss dafür herhalten) bei ihren Eltern gerät Akin zum komödiantischen Kabinettsstück. Das Beharren auf türkischer Tradition wird hier liebevoll, aber auch ironisch dar- und in Frage gestellt.

Tragi(komi)sches Liebespaar: Birol Ünel und Sibel Kekilli

Cahits Zerrissenheit im ersten Teil des Filmes, die in seinem Gefängnisaufenthalt eine Läuterung erfährt, findet bei Sibel ihre Entsprechung in ihrer Verlorenheit in Istanbul, die in einem selbstzerstörerischem Wagemut zum Ausdruck kommt, als sie eines Nachts in einer dunklen Gasse von drei Türken angegriffen wird, sich ohnmächtig aber voller Aggression zu wehren weiß und daraufhin fast getötet wird.

Mit 123 Minuten ist „Gegen die Wand“ leider entschieden zu lang, zerfasert sich im letzten Drittel auch immer mehr. Die Spannungsbögen sind nicht immer glücklich gebaut. Zu lang gerät manche Szene im Film, je länger dieser dauert. Doch was zählt das schon gegen die melodramatische Wucht dieses elementaren Kinostücks aus Hamburg. (Helmut Schulzeck)

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