64. Int. Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2014

Zwei herausragende deutsche Beiträge im Wettbewerb

„Die geliebten Schwestern“ (Dominik Graf, D 2014)
„Kreuzweg“ (Dietrich Brüggemann, D 2014)

Festivaldirektor Dieter Kosslick ist auf seiner ersten Berlinale 2002 mit dem Vorhaben angetreten, dem deutschen Film wieder eine größere Plattform zu bieten als es sein zuletzt unglücklich agierender Vorgänger Moritz de Hadeln getan hatte. Dieses Verspechen hat Kosslick über die Jahre betrachtet erfüllt. Der begnadete Filmnetzwerker und Gute-Laune-Kommunikator verschaffte vielen deutschen Filmen im Wettbewerb ein international beachtetes Auftreten. Auch dieses Jahr hatte das seine Gültigkeit: Vier von 23 Filmen im Wettbewerb waren deutsche Produktionen. Und auch inhaltlich konnte sich die Auswahl in Gänze betrachtet durchaus sehen lassen. Zwei der deutschen Beiträge ragten sogar aus dem Programm der gesamten Konkurrenz heraus.
Dominik Grafs „Die geliebten Schwestern“ ist ein guter Film. Die frische Inszenierung in der ersten Hälfte des Films verblüfft aufs Angenehmste und macht das Zuschauen zur reinen Freude. Dabei ist das literaturgeschichtlich gefärbte Sujet des Film gewiss kein einfaches. Hinzu kommt für den Festivalauftritt, dass die Aufnahme des Films von Schlagwörtern wie Kostümfilm und dem Verdikt eines Degeto-Films im Vorfeld gestört wurde. Doch Regisseur Dominik Graf strafte alle Unkenrufe Lügen.
„Die geliebten Schwestern“ erzählt die Liebesgeschichte zwischen Friedrich Schiller (Florian Stetter) und den Schwestern Caroline von Beulwitz (Hannah Herzsprung) und Charlotte von Lengefeld (Henriette Confurius), wobei Graf die Geschichte aus der Sicht der beiden Frauen schildert und folgerichtig ihr Schicksal mehr verfolgt als das Schillers. Die Schwestern fühlen sich von Anfang an zum jungen Dichter mehr als hingezogen, lieben und ringen einen heißen Sommer um ihn. Sie beschließen, eine zueinander offene Liebesbeziehung zu führen, was ihrer Umgebung natürlich verborgen bleiben muss, zumal die ältere der Schwestern, Caroline, schon (unglücklich) verheiratet ist. Für die jüngere sucht die Familie zuvor eine passende Partie und bedient sich dabei erfolglos der Hilfe ihrer Patentante, der bekannten Frau von Stein (Maja Maranow), die besonders als Goethes Geliebte in Weimar eine glänzende höfische Position hat und die schüchterne Charlotte ins gesellschaftliche Leben einführt. Um auch Caroline nahe zu sein, das ist das scheinbar Widersprüchliche der Geschichte, muss Schiller Charlotte heiraten, denn nur so wird Carolines Mann keinen Verdacht schöpfen, wenn Schiller sich auch oft in ihrer Nähe aufhält.
„Die geliebten Schwestern“ (Foto: Senator Film)
Schon diese kurze Beschreibung mag begreiflich machen, welch lohnende aber auch schwierige psychologische Situation und welche Stereotypen Drehbuchautor Graf und Regisseur Graf zu meistern hat. Zugute kommend aber zugleich herausfordernd wird es für Graf gewesen sein, dass das Genre, besonders in seinen Nebensträngen, schon von etlichen anderen Filmen, man denke dabei an die Verfilmungen von Jane Austens Romanen, „beackert“ wurde. Ein Thema aus den Austen-Stoffen wird hier gekonnt variiert. Verarmter einfacher Landadel sucht gute Partie für eigenwillige Töchter. Eine lebenskluge Mutter (hier: Claudia Messner) umgluckt ihre „unbedarften“, halbemanzipierten Töchter und ist mit Recht um deren materielle und gesellschaftliche Zukunft besorgt. Dem Vater, hier anstatt dessen, der Lebensgefährte der verwitweten Mutter (Michael Wittenborn), bleibt nichts anderes übrig, als sein Haupt unter den Scheffel des Frauenregiments zu stellen. Dieses Thema drängt sich im Film nur zeitweilig in den Vordergrund. Erst gegen Ende verschieben sich die Gewichte. Bestimmend bleibt lange Zeit zuvor die Dreiecksliebe, die im Laufe der folgenden Jahre immer mehr auf schwere Proben gestellt wird und trotz aller Liebesgelübde an den harten Verhältnissen zerbricht. Erwähnt sei unbedingt auch noch der souveräne Umgang Grafs mit dem Topos des Briefromans. Gekonnt werden Briefe in filmische Bilder von den Protagonisten umgesetzt, die die Briefe praktisch dem Zuschauer en face präsentieren. Heraus kommt ein sinnfälliges Gestalten und Vorantreiben der Handlung, mit erfundenen literarischen Zeugnissen, die echt wirken, weil sie den Ton der damaligen Zeit treffen.
Die Frische der Inszenierung lässt sich über den langen dramatischen Bogen der Festivalfassung von 170 Minuten schwerlich halten. Zumal im letzten Drittel die Ereignisse immer mehr in Episoden gestaltet werden als in einer zusammenhängenden Handlung. Die bei den Dreharbeiten auch angestrebte, auf zwei Teile angelegte Fernsehfassung fordert hier ihren Tribut. Nicht zu vergessen sei auch, dass Graf neben der eigentlichen ménage-a-trois noch viele andere Dinge unterbringen wollte, die z.B. Schillers gesellschaftlichen Rang bzw. kulturgeschichtliche Bedeutung fürs Damals und Heute verdeutlichen, seine Freundschaft zu Goethe (deren erstes Zusammentreffen als ein Pop Event in Flussauen gestaltet wird, dem die gesamte – auch extra angereiste – Öffentlichkeit aus gebührendem, respektvollen Abstand spähend beiwohnt), Schillers Herausgeberschaft der „Horen“, sein Profitieren vom Fortschritt im Buchdruck und anderes mehr.
Hier überfordert der Film die Aufmerksamkeit des Zuschauers; der Film wirkt ein wenig überdehnt – wie viele der überlangen Kinofilme. Das ändert aber nichts an der herausragenden Stellung des Films in der diesjährigen deutschen Kinoproduktion. Graf hat sich nach acht Jahren das erste Mal wieder vom Fernsehschirm auf die Leinwand gewagt und auf ganzer Linie beeindruckt. Es bleibt zu hoffen, dass er weitere Kinofilme drehen wird und sich nicht nur dem Fernsehen widmet, das doch angeblich so viel mehr Freiheiten für seine Stoffe bieten kann.
Ebenso bemerkenswert war Dietrich Brüggemanns „Kreuzweg“. In 14 Szenen bzw. Kameraeinstellungen (davon 11 Festeinstellungen), die tableau-artig eingerichtet und bis zu 15 Minuten lang sind, wird die „selbst gewählte“ Leidensgeschichte der 14-jährigen Maria (Lea van Acken) erzählt. Die einzelnen Kapitel sind in ihren Titeln den Stationen des Kreuzweges Jesu Christi angelehnt und werden mit den entsprechenden Überschriften als Texttafeln auf schwarzen Grund eingeleitet.
Maria wächst in einem erzkatholischen Elternhaus auf. Es wird nach den strengen Regeln der (für den Film erfundenen) Gemeinde der Priesterbruderschaft St. Paulus (angelehnt an die realen Piusbrüder) gelebt, die alle Reformbestrebungen ablehnt, in ihrer ideologisch anmutenden Radikalität stark an andere fundamentalistische christliche Kirchen erinnert und wenig Platz für individuelle Lebensführung bietet. Indoktriniert von einem jungen Pfarrer (Florian Stetter), der kaum zu ahnen scheint, was er mit seiner gefährlich naiven Glaubens- und Gebotsauslegung bei seinen jungen Firmlingen anrichtet, und einer herrisch diktatorischen Mutter (Franziska Weisz), deren fanatisches, unerbittliches Verhalten in puncto Glauben pathologische Züge trägt, kommt Maria zu dem Schluss, dass ihr Selbstopfer, nämlich ihr Opfertod, den jüngeren Bruder, der seit Geburt kein Wort gesprochen hat, heilen würde. Und so hungert sie sich schleichend zu Tode.
Der Film stellt die Nöte eines jungen Teenagers da, der seine frisch anerzogenen Glaubensverirrungen mit seinem Alltag in Schule und Freizeit in Einklang zu bringen versucht, damit zwangsläufig scheitern muss und immer mehr in die Isolation treibt. Maria durchlebt verschiedene Stationen ihrer seelischen Not. Marias Mutter maßregelt sie immer wieder auf brutalste Art und Weise, dass man von seelischen Missbrauch sprechen kann. Kontaktaufnahmen eines verliebten Mitschülers werden von Maria zwangsläufig auch auf Drängen der Mutter abgewehrt. Nur beim französischen Au-Pair-Mädchen Bernadette findet sie noch Verständnis, Schutz und Vertrauen. Aber auch diese wird letztlich von der Mutter in ihre Schranken gewiesen.
„Kreuzweg“ (Foto: Dietrich Brüggemann)
Der Klarheit und Strenge des formalen Aufbaus entspricht die inhaltliche Strenge der Handlung in ihrer Gänze, aber auch in den einzelnen Szenen. Schon mit der ersten Szene, die das Geschehen beim Firmunterricht während einer knappen Viertelstunde verfolgt, wird das stilistische Prinzip deutlich. Die Kamera als Beobachter verfolgt bewegungslos in einer halbtotalen Festeinstellung dokumentarisch anmutend das Geschehen. Der Zuschauer kann sich in die Szene einsehen, findet Zeit, dem Geschehen zu folgen, ohne durch Kamerabewegung oder Schnitt auf Bestimmtes gelenkt zu werden. Die Theaterhaftigkeit der Szenerie entwickelt hier eine eigenartige Stärke. Der Pfarrer spricht vom Kampf gegen das Böse, erzählt seinen Zöglingen begeistert vom Wert eines Opfers, spricht von ihrer Verantwortung als Soldaten Jesu Christi und von Auserwählten, deren Heiligkeit sich klar schon im Kindesalter zeige und die deshalb oft sehr früh von Gott heimgeholt würden. In diesen ersten 15 Minuten wird der Grund für das fatale Ende Marias schon gelegt und quasi en passant die ganze Ideologie dieses christlichen Fundamentalismus vor uns ausgebreitet. Nicht immer scheint die sinngemäße Deckungsgleichheit zwischen den Stationen des Kreuzweges – von „Jesus wird zum Tode verurteilt“ bis „Der heilige Leichnam Jesu wird ins Grab gelegt“ – und den Schicksalsstufen Marias evident. Aber es ist verständlich und macht Sinn, die Kreuzweg-Stationen so zu benutzen, wie es Brüggemann tut. Gegen Ende streifen das Geschehen und das Verhalten der Mutter die Karikatur, was aber die Klarheit der Aussage des Films und seine dramaturgische Schärfe nicht im geringsten mindert. (Helmut Schulzeck)
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