17. Filmfest Schleswig-Holstein – Augenweide 2013
Das Märchen vom Marktwert des Menschen
„Der große Irrtum“ (Dirk Heth u. Olaf Winkler, D 2012)
Alle reden über Arbeitslosigkeit und meinen damit eigentlich Erwerbslosigkeit, sprich messen Arbeit und Arbeitskraft allein an ihrem (im Fall der Erwerbslosigkeit fehlenden) Marktwert. Was nicht bezahlt wird, gilt daher der herrschenden Politik auch nicht als wertvoll. Wie in Beton gegossen scheint dieses Paradigma der „Marktarbeit“ – und damit auch ein Menschenbild, das den Menschen allein nach dem Marktwert seiner Arbeitskraft beurteilt. Am Paradigma der „Marktarbeit“ halten bisher auch die allermeisten Arbeitsmarktkonzepte fest. Aber es gibt Alternativen, Arbeit neu zu definieren, sie als gesellschaftlich nützliche Arbeit vom Zwang des bloßen Broterwerbs zu lösen. Eines dieser Konzepte ist das Bedingungslose Grundeinkommen. Darüber wollten die Filmemacher Dirk Heth und Olaf Winkler eigentlich einen Film drehen, fanden dafür allerdings weder einen Abnehmer, noch sprechende Bilder für diese Utopie. Stattdessen stießen sie auf das Konzept Bürgerarbeit, das den Sinn und den Wert der Arbeit nicht nach ihrem Erwerbs-, sondern gesellschaftlichen Nutzen beurteilt.
Schon 2002 hatten Heth und Winkler einen Film über die Kleinstadt Eggesin in der Uckermark begonnen, der den Niedergang der Region infolge Abwanderung der wichtigsten örtlichen Arbeitgeber dokumentieren sollte. Doch die Eggesiner fanden sich weder mit dem drohenden Untergang ihrer Stadt, noch mit den untauglichen Maßnahmen der Jobcenter ab, nahmen die Sache vielmehr selbst in die Hand. Namentlich Dennis Gutgesell, der mit 26 zum jüngsten Bürgermeister Deutschlands gewählt wurde und das Konzept „Arbeit für alle“ erdachte. Statt Arbeitslosigkeit sollte Arbeit staatlich finanziert werden, gesellschaftlich sinnvolle und nützliche Arbeit, die allerdings im bisherigen System keinen Marktwert hat und daher meist nur ehrenamtlich oder von Ein-Euro-Jobbern geleistet wird. Auf ein ähnliches Konzept stießen die Filmemacher in Magdeburg: Das Modell Bürgerarbeit, das Rainer Bomba als damals leitender Mitarbeiter der ARGE Sachsen-Anhalt zu installieren versuchte und es später in Bayern und schließlich auf Bundesebene (heute als Staatssekretär im Bundesministerum für Verkehr, Bau und Stadtentwiklung) weiterentwickelte.
Diese beiden Politiker begleiteten Heth und Winkler von 2007 bis 2011 bei ihrem rastlosen Bemühen, für ihre alternativen Arbeitsmarktkonzepte zu werben und sie – wenigstens zum Teil – in konkreten Projekten zu realisieren. Ebenso porträtieren sie drei Frauen, die auf dem so genannten Ersten Arbeitsmarkt keine Aussichten mehr haben, deren „Marktwert gleich Null ist, die einfach nicht gebraucht werden“ (Gutgesell), im Rahmen der Bürgerarbeit-Projekte aber zumindet zeitweise wieder in Arbeit kamen: Marion Mertin, die sich als Ergotherapeutin gleichsam „zwangsselbsständig“ machte, Diana Körtge, die in der Magdeburger Lebenshilfe gGmbH Menschen mit Handicap betreut, und Irina Neupert, Ein-Euro-Jobberin in der Eggesiner Heimatstube. Fünf Menschen also, die zeigen, wie Arbeit jenseits des herrschenden Paradigmas der Lohnarbeit funktionieren könnte, wie „jeder etwas kann und jeder gebraucht wird“, so das Motto des Eggesiner Projekts „Arbeit für alle“.
Doch die Mühlen der Arbeitsmarktpolitik mahlen langsam, hartnäckig hält sich das Paradigma der „Marktarbeit“ und der Kampf dagegen ist einer gegen Windmühlen. Gegen alle Widerstände halten Bomba und Gutgesell jedoch an ihrer Idee fest, auch wenn sie am Ende scheitern. Bombas Projekt Bürgerarbeit schafft es zwar sogar in den Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Regierung, allerdings nur in verwässerter Form. Oder wie es Arbeits- und Sozialministerin von der Leyen bei einer Pressekonferenz sinngemäß sagt: Bürgerarbeit ist dann am nützlichsten, wenn es gar nicht zu ihr kommen muss, wenn die Menschen schon vorher wieder in den Ersten Arbeitsmarkt integriert werden. Also doch nur eine Neuauflage der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Hartz-IV-Deregulierer? Gutgesell versucht es schließlich mit einem noch „revolutionäreren“ Konzept, der Gründung des Zeitbank e.V. in Eggesin. Bei der Zeitbank ist Arbeitszeit die „Währung“, nicht das Lohnentgelt. Arbeitszeit wird in einer Art Tausch „gehandelt“, „Hand gegen Hand“ sozusagen, und kann auf Konten „angespart“ werden. Ein noch weitergehenderes Konzept, das einst sogar das Rentenwesen revolutionieren könnte.
Doch der Weg zu dieser Utopie ist noch unabsehbar weit. Die drei Frauen können ihre Situation nur teilweise verbessern. Marion Mertin ist trotz Selbstständigkeit auf staatliche Zuzahlungen angewiesen, Diana Körtge gelingt erst auf Umwegen die Umschulung zur Erzieherin und erreicht schließlich eine Festanstellung, allerdings zu einem Lohn, der gerade eben zum Leben reicht. Und Irina Neupert hat am Ende fast resigniert. Auf die Frage nach ihrem Traumberuf antwortet sie: „Weiß ich nicht. Nicht mehr.“
Das Glück der Arbeit bemisst sich nicht allein nach ihrem Marktwert: Diana Körtge (Mitte) als Bürgerarbeiterin in der Magdeburger Lebenshilfe gGmbH (Still aus dem Film)
Die Filmemacher kommen bei ihrer Dokumentation nah an ihre Protagonisten heran, zeigen ihre Nöte und Gedanken, ohne sie bloßzustellen. Besonders die Motivation der beiden Politiker, Gutgesell ist parteilos und steigt schließlich in die Kreisverwaltung auf, Bomba ist CDU-Mitglied und weiß im persönlichen Gespräch von seinen Großeltern zu berichten, die „Zeit ihres Lebens bettelarm“ blieben. Ihre alternativen Konzepte speisen sich aus einem tief empfundenen Humanismus und dem Streben nach einer würdevollen Gestaltung und Organisation der Arbeit. Noch authentischer wird die Dokumentation, indem die Filmemacher sich und ihre Arbeit selbst hinterfragen. Denn auch sie hat schwindenden „Marktwert“. Zudem formulieren sie den Film als gleichsam Brief an ihre Kinder – also an die Zukünftigen, denen es vielleicht doch einmal gelingen wird, die Utopie von einer neuen Definition der Arbeit jenseits vom Märchen des Marktwerts des Menschen umzusetzen. Der Kameramann als Erzähler hofft das zumindest. Derzeit stehen die Zeichen dafür allerdings noch schlecht und auch ein solcher Film ist wohl noch „Der große Irrtum“. Trotzalledem: Der Titel bleibt zweideutig. Denn der wirkliche „große Irrtum“ ist wohl der, nicht mehr an Utopien und eine gesellschaftliche Weiterentwicklung der Arbeit jenseits kapitalistischer Verwertungsinteressen und Gebrauchsmuster zu glauben und dafür beharrlich zu streiten. (jm)
„Der große Irrtum“, D 2012, 105 Min., HD CAM / Digi Beta. Regie, Produktion, Schnitt, Ton: Dirk Heth, Olaf Winkler, Kamera: Dirk Heth, Förderung: DEFA-Stiftung, Filmbüro Mecklenburg-Vorpommern, Beauftragter des Bundes für Kultur und Medien, Medienboard Berlin-Brandenburg, Filmwerkstatt Kiel. Infos und Materialien zum Projekt Bürgerarbeit: www.contract99.de/der-grosse-irrtum. Der Film gewann den Preis der Stiftung Friedliche Revolution „Leipziger Ring“ bei DOK Leipzig 2012.