17. Filmfest Schleswig-Holstein – Augenweide 2013

Kain und Abel auf dem Dorfe

„Kleines Stück vom Schicksal“ (Carmen Blazejewski, D 2011)

Es ist eine alte Geschichte, die alttestamentarische von Kain und Abel, doch ereignet sie sich so oder so immer wieder neu: In Carmen Blazejewskis Dokumentarfilm „Kleines Stück vom Schicksal“ namentlich im nordwest-mecklenburgischen Dorf Alt Meteln. Das ereilte nach der „Wende“ zunächst der übliche Ausverkauf. „Mitte der 90er kannte man hier kaum noch jemanden“, erinnert sich die alteingesessene Dorf-Chronistin Elke Schnoor. Dann aber erlebte das Dorf eine neue Blüte, besonders unter Dieter Franz, Bürgermeister seit 15 Jahren. Schmuck sieht das Dorf jetzt aus, auch wenn im Dorfzentrum ein LKW nach dem anderen über das Kopfsteinpflaster rumpelt, weshalb sich Bürgermeister Franz für eine neue Umgehungsstraße einsetzte und sie schließlich bekam. Zu seinem 725-jährigen Jubiläum hat sich Alt Meteln gemausert, blühen die Rosen in den fein geharkten Kleinbürgervorgärten. Die Alt Metelner Abels haben ihre Äcker bestellt, und Gott hat es wohlgefallen.
Nicht hingegen, was der Kain des Dorfes an seinem Rande aufgebaut hat: Lutz Turczynski hat hier aus den Ruinen eines Resthofs den „Ökohof Rote Flöte“ auferstehen lassen. Für viele im Dorfe, ganz besonders Bürgermeister Franz, ist das freilich ein „Schandfleck“, nicht zuletzt weil Turczynski ein Querkopf ist, der sich gern mit dem Bürgermeister und den Kleinbürgeridyllen anlegt. Noch voll in der DDR sozialisiert, will der 1964 geborene Turczynski in Alt Meteln eine Art „exterritoriales Gebiet“ mitten im nun kapitalistischen Land errichten, eine alternative Anti-Republik, das „erste Permakulturzentrum Deutschlands, die konsequenteste Form von Ganzheitlichkeit und Nachhaltigkeit mit nahezu 100%-iger Erzeugungs- und Verwertungsautarkie“. Zudem will der noch zu DDR-Zeiten für seine Kinder- und Jugendtheaterstücke mehrfach ausgezeichnete „geborene Dramatiker“ auf seinem Ökohof Problem-Jugendliche aufnehmen und „antikapitalistisch“ und gegen die Verheerungen des Konsumterrors, „Internet, Handy und Playstation“, zu besseren Menschen erziehen. Immerhin hat er dafür sogar eine Machbarkeitsstudie mit EU-Mitteln auf die Beine gestellt. Doch die örtlichen Behörden verweigern die Genehmigung, woran auch Bürgermeister Franz, Turczynskis „Erbfeind“, nicht ganz unschuldig ist. Denn Turczynskis Pläne erscheinen ihm zwar „selbstlos sozial“, aber „vollkommen weltfremd“.
Turczynski, der selbst im Winter auf nackten Füßen in Jesus-Latschen über seine nachhaltig bestellten Selbstversorgungsäcker stapft, wirkt für fast alle im Dorf als störender Fremdkörper. Auch für den erfolgreichen Klavierbaumeister Matthias Kunze, der eine DDR-Biografie, aber sich nun hier in der Provinz ein kleines Klavierbaukultur-Imperium aufgebaut hat. Damit ist er zwar ebenso ein wenig ein Außenseiter, aber ein voll integrierter und anerkannt in der Dorfgemeinschaft. Ein Abel also, dessen Werk dem Herrn wohlgefällig ist.
Auferstanden in Ruinen, widerständig und verzweifelt: Der „Kain“ Turczynski gegen die Abels aus dem Dorfe (Still aus dem Film)
Immer wieder lässt Blazejewski die biblische Kain-und Abel-Geschichte anklingen – und immer deutlicher wird, dass in dieser Dorfgeschichte Turczynski das Kainsmal trägt. Zumal er ob der nicht erteilten Genehmigung zur Jugendbetreuung und damit trotz aller Autarkie zunehmender wirtschaftlicher Not immer verbitterter wird. Er sieht sich umstellt von Feinden, errichtet gar einen „antikapitalistischen Schutzwall“ um sein Anwesen und zetert über die ihm feindlich erscheinende Dorfgemeinschaft. Immer weiter steigert er sich in seinen Hass auf die Gesellschaft im dörflich Kleinen wie im global-kapitalistischen Großen. Schließlich trennt sich sogar seine „Gefährtin“ von ihm, weil sie das selbstgerechte Lamento nicht mehr erträgt. So steht Turczynski am Ende „vor einem Scherbenhaufen mit vielen Leichen am Wegesrand“. Er ist der Kain, dessen Werk dem Herrn – wie den Herren des Dorfs – nicht wohlgefällig war.
Über rund 70 der 100 Filmminuten wirkt der Film recht konventionell, verliert sich stellenweise in der Vielzahl der Dorffiguren, die neben Turczynski und Franz als Widerparte auftauchen. So skurril manche derer selbst in ihrer heimatverbundenen Kleinbürgerlichkeit erscheinen, und daher wert, in einem Film über ein vielleicht typisches Dorf zu erscheinen, so sehr hätte hier doch eine das vielfältige Material konzentrierende Schnittschere gute Dienste getan. Umso beeindruckender wie – trotz aller unnötiger Längen – Blazejewski zuweilen die Erzählung verdichtet. Die Dorffeste etwa lässt sie ohne On-Ton, begleitet im Off nur von einem an den kirchlich-biblischen Zusammenhang gemahnenden Orgelstück, vorüberstreifen, unterbrochen von atmosphärischen Landschaftsaufnahmen im tages- wie jahreszeitlichen Zeitraffer. Einleuchtend auch die Einstellungen, die Kain/Turczynski von oben zeigen, einsam stoffelnd durch die Ruinen seines Projekts, gezoomt vom Kopf auf seine schmutzigen Füße, von dem auf die er doch wie einst Marx die Verhältnisse stellen wollte.
Ab Minute 70 verdichtet sich das Kain-und-Abel-Drama, sieht man Turczynski weinend, bestürzt, hoffnungslos, beängstigend hautnah in seinen verzweifelten Hass- und Gefühlsausbrüchen. Wir sind hier plötzlich nicht mehr auf dem Dorfe, sondern dem Theater, mitten in einer Tragödie wahrhaft biblischen Ausmaßes, bebildert durch Aufnahmen des sich hebenden und senkenden Vorhangs im mecklenburgischen Staatstheater der nahen Landeshauptstadt Schwerin, welche „Kapitelüberschriften“ den Film im Nachhinein strukturieren.
So wird die etwas dröge Dorfgeschichte plötzlich bewegend, zeigt allgemein menschliche Muster auf Seiten der Abels wie des Kains in und unter uns allen, entsteht eine allgemeingültige Parabel. Darob möchte man fast eher von einem Essay- als Dokumentarfilm sprechen – und der erscheint trotz mancher verwinkelter Abirrungen am Ende gelungen. (jm)
„Kleines Stück vom Schicksal“, D 2011, 100 Min. Buch, Regie: Carmen Blazejewski, Kamera, Schnitt: Andreas Höntsch, Förderung: Kulturelle Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern, Filmwerkstatt Kiel der FFHSH.
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