Dokumentiert:
Zur Situation freier Dokumentarfilmer
Aus einer Mitteilung (28.08.2003) von Michael Richter (Hamburg) an die Mitglieder der ag dok nord:
Ich möchte noch einige Informationen vom letzten Treffen der agdok nord im Juni nachtragen, bei dem wir unsere Kollegin Ruth-Esther Geiger zum Thema „Erfolgreiche Akquise“ zu Gast hatten. Ruth arbeitet bekanntlich seit vielen Jahren eng mit dem NDR zusammen, zur Zeit mit Rahmenvertrag und ist daher sehr nah dran am Geschehen in den Redaktionen. Vom ursprünglichen Thema Akquisition kamen wir allerdings schnell zum dahinter liegenden Problem der Zusammenarbeit von Autoren und Redaktionen im NDR.
Generell stellt Ruth fest: Der NDR will keine Dokumentarfilmer mehr, sondern Autoren, die Quoten bringen, marktorientiert sind und senderfreundlich arbeiten. Beim NDR werden sehr viele Volontäre ausgebildet, die „genau machen, was von ihnen gewünscht wird“. Diese Entwicklung beobachtet man auch im NDR-Redakteursausschuss, dem Ruth-Esther Geiger als Vertreterin der Freien angehört, sehr kritisch. Ruth stellte uns ein Papier vor, das sie und ihr Kollege Andreas Gaertner für eine Diskussion im Redakteursausschuss formuliert haben: „Das Verschwinden der Autoren und der Auftritt der Programm-Zulieferer, Thesen zum Aussterben einer Zunft“. Hier die wichtigsten Stichworte:
„Der Medienjournalist ist heute Macher, Dienstleister, Zulieferer und immer weniger ‚Enthüller‘. Autoren im klassischen Sinn, die einen eigenen Blick auf die Wirklichkeit werfen, sind dabei, aus den Medien verabschiedet zu werden. Bis in die 90er Jahre gab es neben Nachrichten-, Informations- und Service-Angebot immer auch Sendeplätze für die ’subjektive Sichtweise‘. Dieser Raum wird immer stärker begrenzt. Das heißt, es gibt nicht nur weniger Sendeplätze allgemein für Autoren-Tätigkeit, sondern auch immer weniger Plätze für diese besondere Tätigkeit der Autoren, ohne Not und angesichts einer sehr guten Finanzlage der ARD. Das hat nicht nur wirtschaftliche Konsequenzen für die Berufsgruppe der freien Autoren, sondern verändert auch tiefgreifend die Arbeit der Redakteure, die zu Programm-Managern werden, anstatt im kooperativen und kommunikativen Prozess mit den Autoren zu stehen.
Darüber hinaus ist dieser Prozess Teil eines gesellschaftlichen Phänomens: Wenn Reflexion von einem wichtigen Öffentlichkeitssegment der Gesellschaft nicht mehr gefragt ist, stirbt sie als kommunikative Fähigkeit aus. Sie wird Spezialisten in Universitäten etc. überlassen – für ein großes Publikum ist sie nur noch in vermittelter Form, in knappen Berichten von Journalisten, zugänglich. Autoren, die jahrelang erfolgreich für Fernsehen und Rundfunk arbeiteten, haben – erzwungen oder freiwillig – in den letzten Jahren ihre Arbeit reduziert oder ganz eingestellt. Das könnte den Sendern egal sein, haben sie doch genug neue jüngere Medienzuarbeiter auf dem Markt oder sogar als qualifizierten Nachwuchs ausgebildet. Das wird aber mittelfristig ein Problem sein, da die Originalität dabei verloren geht. Themen werden nur noch von Medien-beobachtenden Redakteuren kommen, die dann die ’second-hand‘-Ware verteilen.
Kritischer und sensibler Journalismus lebt von der Freiheit und der ökonomischen Unabhängigkeit der Autoren. Und er lebt von der Frei-Räumen, die man ihnen im Medium lässt. Möglicherweise wird bald eine Gegenbewegung der Zuschauer auf uns zukommen, die aus dem Überdruss am immer gleichen wieder stärker diesen subjektiven Blick fordert. Dazu brauchen wir Autoren und Journalisten, die ihr Publikum produktiv überraschen.“