7. Filmfest Schleswig-Holstein – Augenweide

Andere Kanäle jenseits des Kanals

Das Sheffield International Documentary Festival zu Gast bei Augenweide

Andere Länder, andere TV-Sitten und damit auch andere Bedingungen für den Dokumentarfilm. Sirkka Möller, Programmerin des Sheffield International Documentary Festivals, gab auf Einladung von MSH und Kultureller Filmförderung S.-H. beim Filmfest Augenweide einen Einblick in die Filmförderlandschaft Großbritanniens – anhand von Beispielen aus dem Sheffielder Programm.

Sirkka Möller, Sheffield International Documentary Festival (Mitte) und die Einladenden, Roland Schmidt, MSH (links) und Bernd-Günther Nahm, Kulturelle Filmförderung S.-H. (Foto: jm)

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist in Deutschland immer noch eine der stabilsten Säulen für das Abspiel ambitionierter Dokumentarfilme. Das ist bei den englischen Nachbarn nicht anders, wenn auch die „alte Tante BBC“ dort zwar eine recht dominante Rolle spielt, aber mit weit weniger frei empfangbaren TV-Programmen längst nicht so stark in der TV-Landschaft verankert ist wie der deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunk. Zudem haben nicht aus Gebühren, sondern rein aus Werbung finanzierte, gleichwohl in öffentlich-rechtlicher Hand befindliche Sender wie ITV (seit den 50er Jahren quasi privatwirtschaftlich „on air“), zeitgemäße Infotainment-Sparten entwickelt, in denen eine neue Form der Doku gedeihen kann: Solches „factual entertainment“ „nimmt den Zuschauer an die Hand“, so Möller, bedient sich relativ plakativer Mittel der Vermittlung. Aber das führt nicht notwendig zur Verflachung à la „K1 – die Reportage“ oder „N24-Dokumentation“, ähnlichen Formaten bei den deutschen Privaten.

Ein Beispiel dafür zeigte das „Vorabendprogramm“ des Augenweide-Samstags. „Feltham Sings“ von Brian Hill (GB 2002, 65 Min., Video) bietet Einblicke in eine Jugendstrafvollzugsanstalt. Und weil Channel 4 – ein Sender „owned by the public“ mit Kulturauftrag, aber selbstfinanziert durch Werbung wie ITV – diese Dokumentation in Auftrag gab, wählt Regisseur Hill eine eigenwillige Form, die mit der Ästhetik des Videoclips spielt. Die Jugendlichen, die in Feltham meist wegen Drogendelikten einsitzen, hat er ausführlich interviewt, lange bevor die Kamera dabei war. Einige von ihnen regte Hill an, die Schilderung ihrer Situation, der Probleme im Gefängnis wie in der Freiheit davor und danach, in rappenden Lyrics zu formulieren. Das Ergebnis ist das wohl erste „Doku-Musical“, ein Mix aus Interview-Doku und Musik-Clip.

Rappende Blicke hinter Gitter

Was im Eminem-Video die toughen Homie-Heroes sind, hier sind es die Zellennachbarn, denen der Rap eine authentische Ausdrucksmöglichkeit gibt. Die ist zwar inszeniert und somit nicht eigentlich dokumentarisch. Aber weil Rap und Hiphop zeitgemäße und zielgruppenorientierte Formen sind, wirken sie nie gestellt. Offenbar kann man Authentizität vom Regiestuhl aus erzeugen, ohne fiktional zu werden. Eine ganz neue Sicht auf das Doku-Medium, zwar diktiert von Marktgesetzen, aber dennoch auch filmästhetisch innovativ. So entsteht eine Geschichte, die den aufklärerischen Gestus des Dokumentarfilms sozusagen vom sozialkritischen Kopf auf die sinnlich erfahrbaren (weil im Beat mitgewippten) Füße stellt.

Solch gelungene Verbindung von „E“ wie Anspruch und „U“ wie Kommerz aus der laufenden englischen Doku-Produktion wirft wiedermal die Frage auf, ob der typisch deutsche „E“-„U“-Kontrast nicht ganz hinterwäldlerisch sei. Mag die BBC so alt und tantig sein, wie sie will, ihre Dokus setzen Maßstäbe, die sie zu Exportschlagern machen. Zwar ist die Klausel, dass 25% der Doku-Produktionen der BBC an freie Produzenten vergeben werden müssen, in Britannien nicht minder umstritten wie Entsprechendes hierzulande – BBC würde gerne alles selber machen, die „Freien“, die von ihr und ihren Redaktions-Rastern abhängig sind, hätten gern mehr Unabhängigkeit. Doch im Ergebnis bewährt sich dieses Schema, selbst wenn gerade die langen Dokus aus den frei empfangbaren Kanälen in digitale mit kostenpflichtigem Abo-Zwang abgeschoben werden, während auf BBC 1 und 2, den frei über Antenne empfangbaren, die Doku-Soap flachste Urständ feiert.

Geschenkt, möchte man sagen, wenn Sirkka Möller zur Illustration einen Ausschnitt aus „One Day in September“ vorführt. Diese BBC-Dokumentation über den Anschlag auf die israelischen Teilnehmer der Olympiade in München 1972 mixt wie „Feltham Sings“ ernsten Info-Auftrag mit gefälliger Vermittlung. Letztere lässt den 70er-Jahre-Kontext so bildsprachlich lebendig werden, dass jede Guido-Knopp-„History“ im deutschen ZDF nach Abstieg in die dritte Liga aussieht.

Dass Dokus auch unterhalten können, beweist nicht nur dieses Beispiel. Populäre Themen – da sträuben sich manchem die Nackenhaare. Die englische TV-Landschaft zeigt indes, wie man auch randständige Themen mit Anleihen an vordergründig flache Vermittlung populär machen kann. Das ist erfolgreich neu – und gibt allerdings dem Alten zu wenig Chancen. „Essay-artige“ Dokus, die Assoziationsräume öffnen, die den Zuschauer fordern, haben bei BBC und ihren halb-privaten Anverwandten keine Chance, weiß Sirkka Möller. Aber so ist das wohl: Wo Neues wächst, überwuchert es zuweilen auch das Alt- und immer noch wünschenswert Hergebrachte.

Welche Auswirkungen haben solche ambivalenten Entwicklungen auf die Filmförderung? In England herrscht im Vergleich zur auch nicht gerade blühenden Förderlandschaft Deutschland zwar keine Wüste, aber eine Steppe. Grund: Die Filmförderung ist konzentriert im allmächtigen Film Council. Das zentriert mit seinem hollywood-geschulten Vorsitzenden Allan Parker auf London als europäisches Gegengewicht zu L.A. Die Doku kommt darin kaum vor. Nur zwei von 100 geförderten Kurzfilmen und zwei weitere der ca. 20 Langfilme waren im vergangenen Jahr Dokus. Den Doku-Filmern bleibt häufig nur eine Finanzierung per Bankkredit, Refinanzierung „hopefully“ nach Kino- oder TV-Start. Letzterer Zweitverwertung steht zudem die gänzliche Rechte-Verwertung durch den auftraggebenden Sender entgegen. Und auch bei europäischen Co-Produktionen wirkt der britische Hang zur „splendid isolation“ als Hemmschuh.

In Sheffield bemüht man sich dennoch um sperrige Formate. Bei Augenweide zu sehen: „An Injury to One“ von Travis Wilkerson (USA 2002, 65 Min., Video). Minutiös und detailversessen zeichnet der Regisseur darin den gewerkschaftlichen Kampf der Arbeiter in den Kupfer-Minen in Butte, Montana, nach. Als der 1917 stattfand, gab es (fast) noch keinen Film. Deshalb regieren in Wilkersons Opus das Standbild und intelligent eingeblendeter Text. Das wird bis zur Grenze des im Kino Erträglichen ausgereizt. Drei revolutionäre Songs der Miners, ins Standbild einer kompletten Super-8-Rolle (unbelichteter An- und Abspann inklusive) eingeblendet, müssen wir über uns ergehen lassen. Das Anti-Unterhaltende hat hier Methode, zumal die aufzuklärenden Verhältnisse komplex sind. Denn die Geschichte der Klassenkämpfe verläuft nicht nach Unterhaltungsgesetzen. Sie wird gemacht von tragischen Figuren wie dem Halb-Indianer Frank Little. Sein Engagement für die Gewerkschaft „International Workers of the World“ endet auf dem Schlachttisch der Unterdrücker. Dashiell Hammett hat darüber einen Roman geschrieben, „Red Harvest“. Dass er selbst in Littles Ermordung involviert war, enthüllt der Film, der deutlich Partei ergreift.

Radikaler Gewerkschafter und Mordopfer: Frank Little

Die Ungeradlinigkeit des Geschichtsgeseztes, das Marx so geradlinig dachte wie die ihm nachfolgenden sozialen Bewegungen, führt zu einer Doku, die im Nachzeichnen der Irrungen und Wirrungen doch ungemeine Bild- und Symbolkraft gewinnt. Und vielleicht ist das die Hoffnung für ein Medium wie Doku-Film, das auch jenseits der Produktionsbedingungen diesseits wie jenseits des Kanals und der TV-Kanäle Eigensinn reklamiert. Manchmal windschnittig im Trend, aber auch oft genug als der notwendig anstrengende Gegenwind. (jm)

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