Für mich bedeutet die Berlinale Binge-Watching, um es auf einen Punkt herunterzubrechen. Mittlerweile ist die Berlinale schon über einen Monat her. Die Frage, die sich mir nach einer gewissen Zeit aufdrängt, ist, was eigentlich nach der Festival-Zeit bleibt. Welche Filme bleiben auch danach im Gedächtnis? Haben mich nachdenken lassen? Bei welchen Filmen habe ich mich lediglich vom Festival-Fieber anstecken lassen? Und welche Filme fallen mir erst wieder ein, wenn ich auf Letterboxd nachschaue? Für meine Top 3 musste ich nicht lange überlegen, denn die folgenden Filme Filme blieben mir noch länger im Gedächtnis.

„Past Lives” (USA 2023, 106 Min., Regie: Celine Song) ist der Debütfilm der Regisseurin und Drehbuchautorin Celine Song, die in diesem ihre eigene Geschichte erzählt und verarbeitet. Obwohl der Film eine Romanze ist, kommt er vollkommen ohne altbekannte RomCom-Klischees und den immer wieder gleichen Handlungssträngen aus. Was für eine Erleichterung! „Past Lives” erzählt etwas anderes und bleibt dabei so liebevoll, ohne auf die Tränendrüse zu drücken. Denn die Protagonistin Nora ist mit ihrer Familie in jungen Jahren von Seoul nach Toronto ausgewandert. Nach 12 weiteren Jahren ist sie als Dramaturgin in New York tätig und hat durch einen Zufall online Kontakt zu ihrer ersten (platonischen) Jugendliebe Hae Sung. Obwohl sie digital viel Zeit miteinander verbringen, traut er sich aber nicht zu ihr zu reisen, so dass der Kontakt wieder im Sande verläuft. Weitere 12 Jahre später ist Nora in einer festen Beziehung, aber Hae Sung traut sich endlich. Ein liebevolles und rührendes Was-wäre-wenn nimmt seinen Lauf, das vermutlich viele von uns kennen. Und weil dieser Film fernab von Klischees und Stereotypen, aber mit spannenden neuen Perspektiven erzählt wird, habe ich relativ früh angefangen, mich in diesem Film wohl zu fühlen. Kein künstlich erzeugtes Drama und keine großen Konflikte, sondern Ausschnitte aus möglichen Realitäten. Dieser Film ist wie eine kuschelige Decke, in die man sich einmummeln kann.

„Past Lives”, USA 2022, Wettbewerb, © Jon Pack

 

Der Coming-of-Age-Film „Sonne und Beton” (DEU 2023, 119 Min., Regie: David Wnendt) ist alles andere als leichte Kost und war für mich auch nicht ganz einfach zu verdauen. Genau deswegen hat er mich lange nachdenken lassen. Denn in der Romanverfilmung von Felix Lobrecht wird nicht lange gefackelt, es gibt von Anfang an aufs Maul – für uns und für den Protagonisten Lukas. Das, obwohl er eigentlich nur in Ruhe mit seinen Freunden chillen will. Aber in Neukölln läuft alles etwas anders, insbesondere durch das soziale Milieu, in das er und seine Freunde hineingeboren wurden. Um sich von feindlichen Banden freizukaufen, müssen sie kriminell werden. Geklaut wird im großen Stil, denn es soll sich am Ende für alle lohnen! Der eine will mit der Beute seine Familie unterstützen und der andere Geld für eine Reise sparen, damit er und seine Mutter vor den prügelnden Vater flüchten können. Puh, das ist harter Tobak, aber Realität. Aber es gibt auch leichte und witzige Momente, die verdeutlichen, dass es sich bei den Freunden um Teenager handelt, die eigentlich nur Spaß haben wollen. Wir hangeln uns demnach immer zwischen Spannung und Entspannung. Dank dem Cast ist der Teenie-Krimi so authentisch, wie schon etwas zugegebenermaßen länger kein deutscher Film vor ihm. Auch visuell bleibt der Film stark und vermittelt durch Farbgebung sowie Requisiten perfekt einen heißen Sommer im Jahr 2003.

„Sonne und Beton”, D 2023, Berlinale Special, © Constantin Film Verleih

 

Dieser Wettbewerbsfilm war so unglaublich rührend, dass man die Schluchzer und Schniefer im Berlinale Palast kaum überhören konnte. „20,000 Species of Bees” (ESP 2023, 125 Min., Regie: Estibaliz Urresola Solaguren) ist der Debütfilm der Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren und erzählt das Leben einer Familie mit einem Fokus auf das 8-jährige Kind Aitor, das sich unwohl mit seiner Geschlechtsidentität fühlt. Einfühlsam und ruhig wird der Konflikt sichtbar gemacht, denn das Kind schämt sich, ins Schwimmbad zu gehen, will lieber in der Mädchenumkleide sein und lehnt den männlichen Namen ab. Da es aber noch so jung ist, fällt es ihm schwer genau zu sagen, was nicht stimmt. Die Mutter hat demnach eine Ahnung, aber kann (oder will) das Problem nicht greifen. Aitor aber schon, da er den großen Bruder fragt, ob er sich schon immer als Junge gefühlt hat und warum. Erst als er alleine bei der Tante auf der Bienenfarm bleibt und sich mit diesen beschäftigt, wird langsam offensichtlich, dass sich das Kind als Mädchen fühlt und identifiziert. Was für Lucía (der selbst ausgesuchte Name) nach und nach einfacher wird, stößt auf Probleme und Ablehnung innerhalb der Familie. Warum dürfe sich Lucía nicht sicher sein, wer sie ist, wenn doch auch andere sicher sind, wer sie sind? Ein einfühlsames Drama und Coming-of-Age-Film, das so rührend die Geschichte eines trans Mädchens aus der Perspektive der Betroffenen schildert, dass dieser Film ein großes Highlight der Berliner Filmfestspiele war. Die Premiere mündete in einer minutenlangen Standing-Ovation und bescherte der jungen Protagonistin Sofía Otero den Silbernen Bären für die Beste Hauptrolle. (jarp)

„20,000 Species of Bees”, ESP 2023, Wettbewerb, © Gariza Films, Inicia Films

 

Titelfoto: Ausschnitt aus dem Plakat der 73. Berlinale (© Internationale Filmfestspiele Berlin / Claudia Schramke, Berlin)
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