Melodram – Zwischen Kolportage, Groschenroman und cineastischer Filmkunst
Von Arno Aschauer
Teil 1: Von der Seelenverwandtschaft zwischen dem Neuen Deutschen Kino der 70er des Rainer Werner Fassbinder und den großen Hollywood-Filmen Douglas Sirks der 50er Jahre
Das Melodram, wie es uns heute vertraut ist, hat seine Entstehungsgeschichte ab Mitte des 18. Jhdt. Das dynamische Dreigestirn – Industrielle Revolution, Aufklärung, Romantik – bildet dazu den fruchtbaren Humus. Und, als historische Metaebene, das magische Jahr 1789, die Französische Revolution. In ihr und durch sie entstanden neue politische Modelle, die vor allem ausbalancierte Machtstrukturen bilden sollten wie z.B. das Parlament und als neuer Souverän das so genannte Bürgertum. Die industrielle Revolution generierte die Lohnarbeit in den Fabriken und damit eine neue Klasse, das Proletariat. Zwischen diesem und der besitzenden Klasse wurde die verwaltende Klasse eingezogen, heute noch Mittelstand genannt. Diese Bevölkerungsgruppe hatte es nicht mehr nötig, bäuerliche Arbeitsstrukturen aufrecht zu erhalten, möglichst viele Kinder als billige Arbeitskräfte in die Welt zu setzen.
1755 schrieb G. E. Lessing mit MISS SARAH SAMPSON das erste bürgerliche Trauerspiel. Waren bislang für schicksalshafte Lebensereignisse höhere (göttliche) Mächte zuständig, so sind ab sofort die Menschen selbst für ihr persönliches Handeln verantwortlich. Zudem ordnet sich das Stück in die Epoche der „Empfindsamkeit“ ein. Große Gefühle als Gegenbewegung zur Öffentlichkeit im Absolutismus und somit als treibende Kräfte eines privaten, intimen Erlebnisraumes. Das geht im Mittelstand einher mit der so genannten Sexualisierung der Kleinfamilie als Keimzelle des Staates. Der Beziehungsaufbau zwischen Mann und Frau bekommt eine neue Dimension, die der Liebe mit all ihren Höhen und Tiefen.
Das Alles bildet die Ursuppe, aus der im 19. Jhdt. die Kunstgattung des Melodrams in der Populärkultur Raum gewinnt. Literarisch in der fruchtbaren Auseinandersetzung zwischen Naturalismus und Realismus als Folgeerscheinungen von Romantik und Aufklärung, vor allem in den Unterhaltungsromanen. Hier wurden auch schon die Qualitätsstandards festgelegt von der Kolportage im Groschenroman über die präfeministischen Werke von E. Marlitt bis hin zu Theodor Fontanes EFFI BRIEST. Ein Titel, der deswegen von spezieller Bedeutung ist, weil er die Brücke zu einem wichtigen Vertreter des Melodrams im Neuen Deutschen Film baut: Rainer Werner Fassbinder. Dieser beruft sich vor allem auf den 1897 in Hamburg geborenen Regisseur Detlef Sierck, der 1937 mit seiner jüdischen Frau Hilde Jary Deutschland fluchtartig verließ, um in Hollywood als Douglas Sirk Filmgeschichte zu schreiben. Knapp davor hatte er mit LA HABANERA dem deutschen Film ein Abschiedsgeschenk hinterlassen, das schon als Markenzeichen Sirk’scher Melodramen gelten kann. Eine flache Geschichte aus der populären Unterhaltungsliteratur wird unter den Händen des Meisters zu einem filmischen Kleinod.
Fassbinder schreibt 1971: „Douglas Sirk hat die zärtlichsten Filme gemacht, die ich kenne. Filme von einem, der die Menschen liebt und sie nicht verachtet wie wir.“ Der Regisseur Todd Haynes, ein Verehrer von Sirk und Fassbinder gleichermaßen in einem Interview von 2005: „Fassbinders Liebe für Sirk ist nur schwer zu verstehen, besonders die Zärtlichkeit mit der er ihn schildert. Wie er beinahe die Liebe und das Mitgefühl beneidete, das Sirk für seine Figuren aufbrachte, was ihm selbst nur bedingt gelang. Er identifizierte sich natürlich mit ihm. Sie verband eine Art ähnliche intellektuelle Entwicklung und ähnliche Standpunkte. Dennoch empfand er bei Sirk mehr Großmut den Menschen gegenüber.“
Schon die Gedichte des 17-jährigen Fassbinder lassen einen Blick in seine empfindsame Seele zu, legen bereits früh eine Spur zu Sirk’s Melodramen in denen zwei literarische Grundformen harmonisch zueinander finden – Lyrik und Drama. Wobei die Lyrik vor allem in der Bildsprache Sirk’s Gestalt annimmt.
ZWEI LIEBEN …
Ein Sternenmeer in Zärtlichkeit gehüllt
Zwei lieben, Erfüllung eines Traums
Ein Traum, von Schönheit nur erfüllt
Im dunklen Schatten eines Baums.
Die Liebe wie sie trägt und schwingt
Im Herzen eingegraben, fest verkettet
Nur das, was Freude bringt
Erlöst, verschönt und rettet.
Man liebt nur einmal so
In Wind und Meer und allen Elementen
Einmal beginnt es irgendwo
Und einmal wird es enden.
(Aus Rainer Werner Fassbinder: Im Land des Apfelbaums. Gedichte und Prosa aus den Kölner Jahren 1962/63, Schirmer/Mosel, 2015)
Todd Haynes weiter: „Das Melodram im amerikanischen Film zeichnet sich dadurch aus, dass es sich aus populären Formen entwickelt hat. Offensichtlich ist es um die Jahrhundertwende aus dem Theater entstanden. Aber der Ursprung vieler Melodramen, die wir mit Douglas Sirk assoziieren, liegt in den Kurzgeschichten, diese Geschichten in Frauenzeitschriften, von denen die meisten mittelmäßig und unbedeutend waren. Sie überschwemmten den Markt während des Krieges und danach. Und es bedurfte einer Art Brecht’scher Neugier darauf, wie man Aspekte der amerikanischen Kultur kritisieren kann, um diese armseligen Stücke der Populärliteratur in solche Filme zu verwandeln, in denen man damals nicht viel mehr sah als diese Geschichten selbst.“
Wie „überschwemmt man den Markt mit mittelmäßigen und unbedeutenden Geschichten“. Das geht nur, wenn auch in diesen literarischen Niederungen strenge Regeln und Gesetzmäßigkeiten gelten. Die Plots sind alle sehr dicht und dramatisch. Auch in ihren Fallhöhen und deren Wendepunkten. Was passiert, ist nahe an realen Vorgängen. All die Elemente, wie Anziehung, Sympathie und Liebe entstehen und wirken. Was von großer Literatur abweicht ist daher weniger in der Struktur zu suchen, sondern eher in der sprachlichen Qualität der geschilderten Details.
Zur Struktur: Diese literarische Form arbeitet sehr situativ. Die Zeitlinien weisen große Sprünge auf, über Tage, Wochen, Monate und Jahre. Es geht immer um den jeweiligen dramatischen Moment, das dramatische Potential der Situation. Doch trotz der fragmentierten Zeitlinien besteht eine Chronologie der Ereignisse. Es beginnt immer in einer scheinbar stabilen Idylle, die handelnden Personen werden rasch etabliert, ebenso ihre Konflikte untereinander. Dann entwickeln sich die Handlungsstränge über besagte dramatische Situationen relativ rasch. D.h. es wird mit starken Ellipsen der Auslassung in der Chronologie der Ereignisse gearbeitet. Wie im klassischen Hollywood-Drama, werden die verschiedenen Handlungsstränge, die über weite Strecken unabhängig voneinander verlaufen, schlussendlich so miteinander verwoben, dass ein einziger hochdramatischer sich daraus entwickeln kann.
Was faszinierte Fassbinder an dieser literarischen Gattung? Aufschluss geben seine Kurzgeschichten, die er 1962/63 noch als Schüler verfasste. Z.B. eine mit dem Titel „Die Fee“. Ein zufälliges nächtliches Treffen eines jungen Mannes mit einem jungen Mädchen an einer Bushaltestelle. Allmähliche Annäherung an den nächsten vier Abenden. Man erfährt über die jeweiligen seelischen Narben trotz ihrer jungen Jahre, auf Grund gescheiterte Beziehungen, die den Anspruch auf ewig hatten. Die Beiden überwinden ihre Verletzungen, versprechen einander, träumen von einer gemeinsamen Zukunft mit all ihrer bürgerlichen Idylle. Am vierten Abend wartet er vergeblich an der Bushaltestelle, nach einer Stunde geht er zu ihrem Haus, fragt die Zimmerwirtin nach seiner Verlobten, um zu erfahren, dass diese heute vom Bus überfahren wurde. Ein Melodram im Kleinen.
Todd Haynes Vermutung, was Fassbinder am Melodram und damit an Douglas Sirk so anziehend fand: „Das Melodram ist für jemanden wie Fassbinder eine fast noch radikalere Form, vor allem auf das deutsche Kino angewandt, das er in den 70ern entscheiden vorantrieb, um seine eigene Kultur zu kritisieren. (…) Seine Filmsprache entsprach keinem festen Maßwerk. Für ihn waren Illusion und Gefühl wichtig. Das ist das Brecht’sche Dilemma: Gefühl vs. Verstand. Ich glaube nicht, dass er je vorhatte, auf eines von beiden völlig zu verzichten …“
Fassbinder dazu befragt, antwortet am 8.3.1979 Ernst Burkel/SZ in Anwesenheit von Douglas Sirk: „Nachdem ich zehn Filme gemacht hatte, die sehr persönlich waren, kam der Punkt, wo wir gesagt haben, wir müssen eine Möglichkeit finden, Film fürs Publikum zu machen – und da kam für mich die Begegnung mit den Filmen und dem Douglas Sirk persönlich. Das war unheimlich wichtig für mich. Und um einmal auf das angebliche Vater-Sohn Verhältnis zurückzukommen – das war und ist anders, weil Vater-Sohn Beziehungen meist Kampfbeziehungen sind. Ich hab jemanden gefunden, der in einer Art und Weise Kunst macht, dass ich gemerkt hab, was ich an mir verändern muss.“
In Teil 2 wird Arno Aschauer den Weg des Melodramas weiter verfolgen.
Arno Aschauer – Drehbuchautor, Regisseur, Dramaturg, Journalist, Hypnosystemischer Coach und Berater für Stoffentwicklung in Film/TV/Web, Interdisziplinäre Forschung an den Berührungspunkten zwischen Film, Coaching & Therapie. Lebt und arbeitet in Kiel.
(Der Artikel erschien zuerst in „Wendepunkt“ (Zeitschrift des Verbands für Film- und Fernsehdramaturgie – VeDRA) Nr. 53 / Juni 2022 und wurde uns vom Autor freundlicherweise zum Nachdruck zur Verfügung gestellt.)
Titelbild: Poster (Ausschnitt) für David Belascos Theatermelodram „The Heart Of Maryland”, 1900 (Quelle: wikimedia.org)