Blick in die kinematographischen Erinnerungsarchive (5)

Der langsame Abschied vom Kino wie wir es kennen

Aus Kieler Perspektive

Vorweg eine persönliche Erinnerung:
Ich bin in Nortorf, einer Kleinstadt mit 6.000 Einwohnern in Mittelholstein, geboren und aufgewachsen. Nortorf hatte Anfang der 60er Jahre zwei Kinos. Eines davon hieß Schauburg und lag in der Ortsmitte schräg gegenüber des alten Rathauses. Heute ist dort ein Supermarkt.
Sonntags um drei Uhr nachmittags gab es häufig eine Kinder- und Jugendvorstellung. „Zorro“, der fechtende Rächer mit der Maske oder der alte B-Film-Cowboy-Trottel „Fuzzy“ mit seinen Freunden mischten dann zu aller Kinokinderfreude das spanische Kalifornien bzw. den Wilden Westen auf der Leinwand auf. Ich muss gestehen, dass ich mich an die Filminhalte so gut wie nicht mehr erinnere, schon eher an das ungeduldige Warten auf die Öffnung des Kinos. Denn ich war wie viele andere schon immer vor 14 Uhr da, also lange bevor das Kino uns gegen halb drei zum Kartenkauf in das rundliche Foyer einließ. Auch an lange Warteschlangen vor der Kasse meine ich mich zu erinnern, ebenso an die ganz hinten im Saal höher platzierten teueren Sperrsitze, deren zwei noblen Reihen sich deutlich vom anderen Gestühl absetzten. Auch einen feierlichen Kinogong habe ich im Gedächtnis.
Kinosaal des Gloria, Kiel 1951 (Foto: unbekannt)
Aber die wichtigste Erinnerung in Bezug auf meinen feiertäglichen Kinobesuch im Alter von sieben bis acht Jahren betrifft meinen wunderbaren Vater. Der gab mir zwar immer eine Mark für den Kinoeintritt und ein paar Naschereien, versuchte mich aber gleichzeitig immer zum Zuhausebleiben zu überreden. Wir hatten damals schon einen Fernseher, seit 1957, als erste in unserer kurzen Straße. Und so schwärmte mir mein Vater von „Fury“ vor, der Kinderserie um Joey und seinen Freund, einen wilden schwarzen Mustang, die immer sonntags um halb drei im einzigen Fernsehprogramm lief. Und anschließend kam ja dann auch noch die Western-Serie „Am Fuß der blauen Berge“ mit Slim Sherman und Jess Harper auf ihrer großen Ranch nahe Laramie. Ob ich wirklich darauf verzichten wolle, fragte er fast ein wenig betrübt mit bittendem Blick. Das sei doch mindestens genauso gut, wenn nicht besser als das teure Kino. Und ich könnte ja dann die eine Mark für was anderes sparen. Doch ich bin dann meistens trotzdem ins Kino gegangen.
Filmvorführer Oscar Albrecht an seinem Projektor im Kino Gloria an der Holstenbrücke 3. Albrecht führte 60 Jahre lang Filme vor. Am 31.12.1976 schließt das Kino. (Foto: Friedrich Magnussen)
Was weder meinem Vater, geschweige denn mir kleinem Bengel damals bewusst war: dass wir so nicht nur allsonntäglich Täter und Zeugen des globalen Wettbewerbs zwischen Kino und Fernsehen waren. So wie nach 1945 Hollywood mit seinen Leinwandprodukten das europäische Kinoprogramm attraktiver machte, so machten es ab den 60er Jahren unter anderem populäre TV-Serien, wiederum aus Hollywood, der Kinowirtschaft schwer.
Der Werbeslogan „Mach dir ein paar schöne Stunden, geh’ ins Kino“, mit dem die deutschen Lichtspieltheater in den 60er Jahren um Publikum warben, verfing nur noch bedingt in Zeiten, in denen so genannte „Straßenfeger“ wie Filme aus der Krimi-Reihe „Stahlnetz“ oder Mehrteiler von Francis Durbridge („Das Halstuch“) mit Einschaltquoten bis zu 90 Prozent zum Tagesgespräch wurden oder die ganze Familie sich andächtig am Samstagabend zu den großen Quizshows mit Hans-Joachim Kulenkampff und Peter Frankenfeld vor der Röhre versammelte.
Soweit der heftige Anfang vom langsamen Abschied.
Gut 50 Jahre später läuft das mancherorts schon lange prophezeite und befürchtete Endspiel bzw. die (nun finale?) (Struktur-) Krise für die gesamte deutsche Kino-Wirtschaft. Hier wie auch auf anderen Feldern sind zu Corona-Zeiten Schlagworte wie Katalysator oder wie unter einem Brennglas zu Gemeinplätzen einer Bedrohung geworden, deren Symptome man der Not gehorchend mit Instrumenten wie „#KulturhilfeSH“ oder „Kulturfestival SH“ zu lindern versucht, denen man aber bisher strukturell hilflos gegenübersteht.
Gloria 1976 (Foto: Bernd-Günther Nahm)
Zu verfolgen ist die Ablösung der Kino-Leinwand in ihrer bisherigen Funktion fürs anlasslose Filmeschauen durch Display und Bildschirm, die mit einem expansiven Wachstum an digitalen Videostreaming-Diensten (z.B. Netflix und Amazon Prime) einher geht.
Die Corona-Krise hat die schon vorher nicht leichte Situation für die Kinos extrem verschärft. Erst der Lock-Down mit Schließung aller Kinos ab Mitte März. Dann die Erlaubnis zur Wiedereröffnung ab Ende Mai mit den bekannten Auflagen (Mindestabstand: 1,50 m, Atemschutzmaske, Begrenzung der Versammlungsgröße), die einen profitablen Betrieb für die meisten Filmtheater im Grunde genommen unmöglich machen. Begeben wir uns noch einmal in die Rückschau, und greifen wir uns das Beispiel Kiel heraus.
Bis Ende der 50er Jahre war die Kinowelt (wirtschaftlich gesehen) noch in Ordnung. 1956 erreichten die Kinobesuche in der BRD mit 818 Millionen verkauften Kinokarten ihren Höhepunkt (1958: 753 Millionen Kinokarten). Die BRD einschließlich Westberlin hatte eine nahezu flächendeckende Versorgung mit Kinos. Ein spürbarer Rückgang sollte erst in den 60er Jahren zum Problem werden, als sinkende Besucherzahlen sich auch in sinkenden Umsätzen deutlich bemerkbar machten.
„Bahnhofskino“ Kino Imbiss 1976 (Foto: Bernd-Günther Nahm)
Kiel hatte beispielsweise laut „Filmstatistischem Taschenbuch 1959“ („Filmstatistisches Taschenbuch 1959“, Spitzenorganisation der Filmwirtschaft e.V., Statistische Abteilung (Hrsg.), zusammengestellt und bearbeitet von Götz von Pestalozza, Verlag für Filmwirtschaft und Filmkunde, Wiesbaden-Dotzheim, Juli 1959) 1958 (bei 266.089 Einwohnern) noch 27 Filmtheater mit insgesamt 14.366 Sitzplätzen und landete damit auf Rang 19 unter den 52 Städten in der BRD mit über 100.000 Einwohnern.
Kurbel 1976 (Foto: Bernd-Günther Nahm)
Mit 4.439.546 Kinobesuchen 1958 ging jeder Kieler durchschnittlich 16,7 Mal im Jahr ins Kino, was zwar einen Rückgang um 9,7 Prozent zum Vorjahr bedeutete, aber zu verkraften war, weil die Einnahmen dennoch stiegen. So erreichten 1958 die Jahresbruttoeinnahmen der 6.788 westdeutschen Filmtheater (einschl. Westberlin) mit 1.013 Millionen DM einen neuen Höchststand.
Savoy 1976 (Foto: Bernd-Günther Nahm)
Ein Vergleich mit den heutigen Zahlen macht deutlich; welch ein Kahlschlag nach der Hochphase in den 50er Jahren einsetzte, bedingt in den 60er Jahren durch das Fernsehen (siehe oben), später geringer durch VHS und DVD, und schließlich durch das Internet: 2019 wurde mit 118,6 Millionen verkauften Kinokarten ein Umsatz von 1.024 Millionen Euro erwirtschaftet, bei 1.734 Kinos in Gesamtdeutschland.
Die Multiplex-Kinos bleiben ein Phänomen, das zu Beginn der 90er Jahre blühte, als man unter der Marktführerschaft von Hans-Joachim Flebbes CinemaxX Kinokonzern einen Wendepunkt schaffte und nach US-amerikanischem Vorbild einen zeitgemäßen und genre-gerechten Kino-Ort für Hollywoods Blockbuster kreierte.
Central 1976 (Foto: Bernd-Günther Nahm)
Man lockte alte und neue Besucher in großzügige Kinosäle mit freier Sicht von allen Plätzen auf große Leinwände mit Dolby Surround. So erreichte man im Verein mit den Arthouse/Programmkinos, die erfolgreich die Komplementär-Klientel bedienten, die Wende ins Plus bei Besucherzahlen und Umsatz. Fast wie nebenbei brach man die Marktmacht des Ufa-Kino-Konzerns und vertrieb so endgültig den unsäglichen Muff der langlebigen Schachtelkinos aus den späten 60er Jahren, mit denen Ufa-Chef Heinz Riech glaubte, dem Kinosterben begegnen zu können, die sich aber eher als angestammte Plätze für Lümmelfilme, verklemmte Schulmädchen-Reports und ähnliche Irrungen eines deutschen Spießerkinos erwiesen.
Regina 1976 (Foto: Bernd-Günther Nahm)
Doch was blieb nach den Gründerjahren der Multiplex-Herrlichkeit? – Binnen relativ kurzer Zeit wurden 117 „Kinotempel“ hochgezogen. Resultat: Ein gewaltiges Überangebot führte zu einem überhitzten Kinomarkt, dem viele Kinobetriebe mit Hunderten von Kinosälen zum Opfer fielen. Ein nationales und internationales Konzentrationskarussell kam in Schwung. Einstige Erzrivalen wie CinemaxX und Ufa-Theaterbetriebe arbeiteten zur Überraschung Außenstehender zusammen. Auch viele aus der Verleih- und Produktionsbranche mischten mit. Aber selbst Multiplex-Kinos mussten aufgeben.
Und heute? – Wer einmal in einem Multiplex-Kino an einem Donnerstagabend in der zweiten Spielwoche in einer 20-Uhr-Vorstellung einen Stephen-Spielberg-Film zusammen mit nur sechs anderen Zuschauern in einem 600 Plätze fassenden Saal gesehen hat, der ahnt, wess’ Stündlein bald geschlagen haben könnte.
Die aktuelle Kinolandschaft setzt sich aus drei verschieden Kinotypen zusammen. Neben den großen Multiplex-Ketten gibt es noch die vielen mittelständischen (oft Familien-) Kinobetriebe, die größtenteils auch auf Blockbuster setzen. Und schließlich sind noch die (subventionierten) Kommunalen Kinos und Filmmuseen sowie die Arthouse Kinos bzw. Programmkinos zu nennen.
Die Brücke 1976 (Foto: Bernd-Günther Nahm)
Betrachtet man z.B. die Situation in Kiel, gibt es neben dem CinemaxX am Hauptbahnhof nur noch vier Programm-Kinos (Kommunales Kino in der Pumpe – Koki, Studio-Kino, Metro-Kino, Traum-Kino. Das kleine Sofa-Kino, der „Hansa Filmpalast“, soll nicht unerwähnt bleiben, hat aber kein tägliches Programm). Von außen betrachtet ringt das 106 Plätze umfassende Kommunale Kino in der Pumpe am stärksten um seine Existenz. Trotz städtischer Subvention, vieler Sonderveranstaltungen, Seniorenkino, Schulkino, Filmfest Schleswig-Holstein, regionalen Filmpremieren aus der hiesigen Filmszene und anderem mehr, hat das Kino, das seit Jahrzehnten eine Heimstätte für Cineasten war und ist, auch ohne Corona einen schweren Stand.
Studio 1976 (Foto: Bernd-Günther Nahm)
Die filmisch sich gegenseitig befruchtende Nachbarschaft, Tür an Tür mit der Filmwerkstatt Kiel der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein, ist Geschichte. Die Filmwerkstatt ist Ende des letzten Jahres aus der Pumpe ausgezogen. Die Zeiten, in denen das Koki fast das Alleinstellungsmerkmal in Schleswig-Holstein hatte, die Premierenadresse für Filme aus der lokalen und regionalen Filmemacherszene zu sein, sind vorbei. Heute müssen sich alle Kinos nach der Decke strecken und sind offen für Angebote der Filmemacher*innen und Wünsche aus dem Publikum. Längst haben alle ihre Spezialitäten im Programm, sei es das Finale des Nur-48-Stunden-Filmwettbewerbs im Metro, der Vorleseabend des Kurzfilm-Drehbuch-Preises Schleswig-Holstein im Studio-Kino, das Fetisch- und das Transgender-Filmfestival im Traum-Kino oder die Vorführungen des Cinemare Filmfestivals im CinemaxX.
Metro 1976 (Foto: Bernd-Günther Nahm)
So stark die Konkurrenz besonders unter den vier Arthouse-Kinos auch sein mag. Letztlich sitzen alle im gleichen Boot, auch wenn manche bessere Schwimmwesten haben mögen. Als 1993 der städtische Zuschuss für die Pumpe gedeckelt werden sollte, waren sich Vertreter des damaligen fast Kino-Monopolisten in Kiel, der Ufa-Filmtheater-Betriebe, und des CinemaxX-Konzerns, der dann im März 1995 ein Multiplex-Kino in Kiel eröffnete, bei einer Podiumsdiskussion einig: „Das Multiplex macht Kino fürs Publikum, das Kommunale Kino schafft Publikum fürs Kino.“ (vgl. Helmut Schulzeck, „Deckel drauf“, Frankfurter Rundschau, 19. Mai 1993, Seite 7) (Helmut Schulzeck)
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Teil 5 aus der filmhistorischen Reihe, die in loser Folge lokale und regionale Film- und Kinogeschichte aus den „kinematographischen Erinnerungsarchiven“ erzählt. Weitere Teile finden sich hier:
Die Fotos von Bernd-Günther Nahm entstanden an einem trüben Nachmittag im Jahre 1976 als visuelle Zwischenbilanz aller damals geöffneten Kinos in Kiel.

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