23. Filmfest SH 2019

Der Komponist als Spieler

„To B or to B flat – The Composer Boudewijn Buckinx“ (D 2019, Viola Rusche und Hauke Harder)

„Warum ist meine Musik so einfach? „” Warum ist meine Musik so komplex?“, fragt sich und uns Zuschauer der belgische Komponist Boudewijn Buckinx (geb. 1945) scheinbar widersprüchlich und gibt darauf immer wieder neue, durchaus philosophische und nicht weniger (scheinbar) widersprüchliche Antworten. Die aus Schleswig-Holstein stammenden Berliner Filmemacher*innen Viola Rusche („Amor Vati“, 2008) und Hauke Harder porträtieren Buckinx entlang dieses roten (Selbst-) Befragungsfadens in ihrem Film-Essay „To B or to B flat – The Composer Boudewijn Buckinx“, der beim 23. Filmfest SH seine Premiere feiert.
Nach „No Ideas but in Things – The Composer Alvin Lucier“ (2012), „Zeile für Zeile“ – Ein Film über den Komponisten Ernstalbrecht Stiebler“ (2014) und „A Shape of Time – The Composer Jo Kondo“ (2016) ist dies bereits das vierte Porträt von Person und Werk eines zeitgenössischen Komponisten. Das Quartett verbindet Hauke Harder (selbst Komponist und experimenteller Klangkünstler), der in den 1990er Jahren mit seiner „Gesellschaft für akustische Lebenshilfe“ Werke aller vier Komponisten in Kiel präsentierte. Einen Ausschnitt aus Buckinx’ gleichsam „Schlüsselwerk“ „1001 Sonatas für Geige und Klavier“ (BBWV 1988.09) brachte Harder 1991, drei Jahre nach der Uraufführung in Darmstadt, in den Orchesterprobenraum des Kieler Opernhauses und war damit an der vordersten Front zeitgenössicher Musik. 1998 organisierte Harder eine mehrtägige Gesamtaufführung der „1001 Sonatas“ (Gesamtlänge: ca. 20 Stunden) an mehreren Orten in Kiel (vgl. KN-Bericht von Jörg Meyer (1998) im Anhang).
Boudewijn Buckinx im spanischen Sommer (Filmstill (c) Viola Rusche und Hauke Harder)
Während die drei anderen, vorher porträtierten Komponisten mit ihren eigenwilligen Kompositionsverfahren unter dem Rubrum „Avantgarde“ subsummiert werden könnten, steht Buckinx dazu in gewisser Weise quer. Er selbst sagt im Film sinngemäß: „Avantgardisten stellen Leitern an Bäume, um die Äpfel zu pflücken, ich sitze unter dem Baum und warte, was herunterfällt.“ (Isaac Newton lässt grüßen 😉 Buckinx’ Werk, für das er so ganz disparate Einflussgeber wie Mozart (Tradition), Satie (Transformation/Befreiung der klassischen Tonalität) und Cage (der ironische Spieler mit Form und Musik-/Konzertbetrieb) nennt, könnte man als „postmodern“ bezeichnen – in dem Sinne, das viel „im Stile von …“ ist, aber ganz neu arrangiert und addiert, wenn nicht subtrahiert oder sogar dividiert. Auch die Postmoderne, philosophisch zeitgeistiges Paradigma des Jahrtausendwechsels, ist gut 20 Jahre danach schon „historisch“, denn die Kunstepochen wechseln mittlerweile nicht mehr im Zwei-Jahrhundert-, sondern Jahrzehntewechsel. Ein Tempo, dem Buckinx nachdenkliche Langsamkeit entgegensetzt. Was ihn zum „Postmodernen“ macht, ist vor allem das Spielerische, das im Film deutlich wird.
Spielt mit Tradition, Avantgarde und Postmoderne: Boudewijn Buckinx (Filmstill (c) Viola Rusche und Hauke Harder)
Neben den Fragen nach Einfachheit versus Komplexität (z.B. Zahlensymbolik wie in Barock und Kaballa) bilden auch die „1001 Sonatas“ einen festen Faden, an dem sich der Film trotz seiner lockeren Gebundenheit entlanghangelt. Buckinx’ Gestaltungsprinzip in den „1001 Sonatas“ nimmt die uralte Form der Variation wieder auf, bricht sie zugleich, das postmoderne Diktum, dass alles mit allem zusammenhängt, konterkarierend, indem jede Sonata Eigensinn reklamiert. Die den Film durchziehenden „1001 Sonatas“ sind somit auch eine Art Zeitgemälde unserer Epoche, wo alles, die gesamte Geschichte (und Geschichten, aka „Narrative“) überall und immer als bloßes Material verfügbar sind. Und wo Gegensätze wenn nicht verschmelzen, so doch ineinander fließen – man könnte das Dialektik nennen, was aber auch ein sehr „oldschool“-Begriff ist. Wie der Filmtitel (Buckinx entlehnt), der Shakespeares Hamlet genauso assoziert wie den Dur-Moll-Wechsel, Gestaltungsprinzip vieler seiner Kompositionen.
Und wie werden diese Paradigma der Moderne/Postmoderne filmisch umgesetzt? Die Regisseur*innen und ihr Kameramann Johannes Imdahl finden dafür wundervoll gegen- und abständige und zugleich nahe Bilder: Romantische Landschaftsbilder wie in C. D. Friedrich-Gemälden, beiläufige Großstadtszenen und – ganz klassisch – eigens neue Aufnahmen der „1001 Sonatas“. So schwebt eine Baggerschaufel über einer Gracht, hebt und senkt sich, gleichsam unambitioniert ihr Ziel suchend (zu den Klängen einer der neun absichtlich unvollendeten Symphonien Buckinx’ – auch so einer seiner ironischen Coups). Buckinx selbst antwortet auf die selbst gestellte Fragen nach Einfachheit vs. Komplexität in einem „White Room“, Hörsaal einer Universität vor weißem (bewusst farbneutralen) Hintergrund, gleichsam im Elysium. Oder ganz alltäglich vor einem Fritten-Stand – weil sein Großvater ihm riet: „Junge, sieh zu, dass du bei allem was du machst, immer Fritten essen kannst.“
Composing on scene – Boudewijn Buckinx schreibt die letzten Takte der Musik für den Abspann des Films (Filmstill (c) Viola Rusche und Hauke Harder)
Buckinx’ Werk, das vielschichtig zwischen traditionsverhaftetem Ernst und mit der Moderne spielender Ironie changiert, wird so treffend bebildert. Ein wechselseitiges Einverständnis zwischen seiner Musik und den Bildern der Filmemacher*innen. Ein Film wie die in ihm verständlich gemachte Musik im steten Wechsel zwischen „to B“ und „to B flat“. (jm)
„To B or to B flat – The Composer Boudewijn Buckinx“, D 2019, 88 Min. Drehbuch/Regie: Viola Rusche, Hauke Harder; Kamera: Johannes Imdahl; Schnitt: Viola Rusche; Ton: Hauke Harder; Förderung: Filmwerkstatt Kiel der FFHSH, Kulturelle Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern; Website: www.boudewijn-buckinx-film.net.
Premiere beim 23. Filmfest SH: Sa, 11. Mai 2019, 14 Uhr, Kino in der Pumpe.
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Konzertvorbesprechung von Jörg Meyer, „Kieler Nachrichten“, 28.8.1998, anlässlich der Gesamtaufführung der „1001 Sonatas“ in Kiel:

Gefunden statt erfunden

Boudewijn Buckinx’ 1001 Sonaten werden in Kiel aufgeführt
„Die Modernisten haben Leitern gebaut, um in einem Apfelbaum die besten Früchte zu pflücken. Ich sitze unten und warte auf die Äpfel die herunterfallen.“ Mit diesem Bild beschreibt der belgische Komponist Boudewijn Buckinx die Entstehung seiner mit dem Motto To b or to b flat titulierten 1001 Sonaten für Violine und Klavier, die auf Einladung der Gesellschaft für akustische Lebenshilfe dieser Tage in Kiel zu einer Gesamtaufführung kommen. Ja, er sei ein Postmoderner, bekennt Buckinx, aber ohne jedes Dogma. Die Komponisten der Moderne mag er, doch kritisiert er sie auch. „Die wichtigste Entdeckung der Postmoderne ist, dass Kommunikation eigentlich nicht möglich ist“, weiß Buckinx. Wenn man zum Beispiel sage: „Ich liebe dich!“, dann drücke man nicht nur ein Gefühl aus, sondern zitiere auch Shakespeares Romeo. Jegliches Sprechen, auch das musikalische, sei immer von solchen „Allusionen“ überdeckt. Diese Erkenntnis macht ihn jedoch nicht zum Kulturpessimisten, sondern eröffnet ihm – und seinen Zuhörern – etwas Neues. Die Freiheit von den Fesseln des planvoll Konstruierten und damit eine größere Nähe zum Leben als sie die „immer noch letzte Wahrheiten anstrebenden Konzepte der Moderne“ hatten.
„Nach dieser zu 100% erfundenen Musik, brauche ich zu 100% gefundene Musik“, schreibt Buckinx selbstkritisch im Kommentar zu seinen Sonaten über Nr. 23. Erfindung grenze das Spielerische zu sehr ein. Und das freie, regellose Spiel kann man hören: „Der Hörer denkt, das kenne ich doch irgendwoher. Aus der letzten Sonate oder von Schubert?“ Buckinx spielt augenzwinkernd mit solchen „gefundenen Assoziationen“. „Aber es sind keine Zitate, sondern Metaphern. Es klingt nur so wie, ist es aber nicht.“ Das macht den Reiz aus, nämlich dass der Zuhörer immer wieder auf falsche Fährten gelockt wird. „Nicht anders als es mir beim Komponieren ergangen ist. Ironie ist für mich ganz wichtig.“ Die von Theoretikern der Postmoderne wie Lyotard beschworene Kommunikationsnot macht Buckinx so zur Tugend einer „einfachen Musik“ ohne theoretischen Überbau. Zwar sind die 1001 Sonaten zu 77 Reihen a 13 Sonaten gegliedert. Mit Zahlensymbolik habe das aber nichts zu tun. „Die Sonaten innerhalb einer Reihe beziehen sich manchmal stark aufeinander, manchmal sind die Reihen aber auch ganz zufällig. Und die Zahl 1001 heißt nur ’quasi unendlich viele’.“
„Während des Komponierens behindert das Denken“, feixt Buckinx. Das sei so ähnlich wie bei der „Samurai-Haltung“ im Zen-Buddhismus: „Vorher nachdenken und hinterher, aber während des Kampfes nur kämpfen.“ Wie im wirklichen Leben, auch dort entscheide meist nur der Augenblick, wie man sich entwickle. Dennoch sei seine Musik nicht aus dem Geist des „écrire automatique“ der Surrealisten geboren. „Die wollten das Unbewusste reden lassen. Bei mir ist das Komponieren schon bewusst, aber eben nicht kontrolliert und damit nah am Leben und meinem Gefühl im Moment des Schreibens.“ So wurde in den Sonaten, von denen Buckinx über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren fast täglich eine oder mehrere schrieb, auch „nicht radiert“. Dass dabei auch „manche nicht so gute Sonate“ entstand, „soll man ruhig hören. Es sind nämlich auch viele sehr schöne dabei.“
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