23. Filmfest Schleswig-Holstein 2019 – Begleitprogramm LUSCHERN
Skandal um „Die Carmen von St. Pauli“
Am 5. Mai zeigt das Kino in der Pumpe im Filmfest SH-Begleitprogramm „LUSCHERN“ den Stummfilm „Die Carmen von St. Pauli“, der 1928 unter der Regie von Erich Waschnek zum Teil in Hamburg gedreht wurde. In der Hauptrollen spielen Jenny Jugo und Willy Fritsch, der unumstrittene männliche Schauspiel-Star seiner Zeit. Wir führten ein Interview mit der Fritsch-Biografin Heike Goldbach über Willy Fritsch, seine Beziehung zu Schleswig-Holstein und den Skandal, den der Film Ende der 1920er Jahre auslöste. Die Autorin hat uns freundlicherweise gestattet, den entsprechenden Auszug aus ihrem Buch, der sich den Dreharbeiten und den Besuchen des UFA-Schauspielers in Hamburg und auf Sylt widmet, zu veröffentlichen.
Von Hamburg über Ungarn zum Mond
„Aktiver Sportler bin ich nicht und war es auch nie. Hätte ich trotzdem ein Sport-Tagebuch geführt, so könnte es als hauptsächlichste Episoden der letzten zwei Jahre ungefähr folgendes verzeichnen: Wettlauf durch Groß-Hamburg bis tief in die Hafengegend. Ein 20-Minuten-Dauer-Wettlauf zwischen mir, einer neugierigen Filmkamera und den noch neugierigeren älteren Jungens von Hamburg und Sankt Pauli. Mitten in diesem Dauerlauf eine Filmaufnahme von fünfundzwanzig Metern für den Film „˜Die Carmen von St. Pauli’. Von Sankt Pauli selbst nichts Sportliches zu melden, nur große Strapazen wegen der Neugierigen! Ein bekannter Rennläufer zu sein, gut! Aber quer im Galopp durch die Stadt laufen und als Film-Schauspieler erkannt zu werden, dann noch eine anständige Aufnahme zu bekommen – das ist auch eine sportliche Spitzenleistung.“
Mit diesen Worten beginnt ein launiger Artikel der Zeitschrift Filmwoche im Jahre 1930, in dem sich Willy Fritsch unter anderem an die Dreharbeiten zu seinem nächsten Film erinnert. „Die Carmen von St. Pauli“ entsteht frei nach der Novelle von Mérimée bzw. der Oper von Bizet im April und Mai 1928 in den Neubabelsberger Ateliers. Für die Außenaufnahmen fährt man ins frühlingshafte Hamburg, um innerhalb des einzigartigen Panoramas authentische Szenen im Hamburger Hafen zu drehen. Fritsch spielt den Bootsmaat Klaus, einen anständigen Matrosen, der durch die Liebe zu einer Frau – dargestellt von Jenny Jugo – in ein schummeriges Gangstermilieu gerät, fast selbst zum Verbrecher und gar des Mordes bezichtigt wird. Die Handlung des Films ist im Hamburger Hafenviertel angesiedelt, dessen Kneipen man in Neubabelsberg für die Innenaufnahmen originalgetreu nachbaut.
Billy Wilder, damals noch als Journalist tätig, berichtet am 8. Mai 1928 für die B.Z. am Mittag „Aus den Ateliers: Draußen in St. Pauli, einer verrufenen Ecke Hamburgs, liegt die Kneipe „˜Zum guten Ankergrund’. Nicht gerade die besten Seeleute verkehren hier. Zwei ganz schlimme Burschen sind der „˜Kleine’ (Wolfgang Zilzer) und der „˜Doktor’ (Fritz Rasp), denen das schöne Mädel von St. Pauli (Jenny Jugo) die Opfer, die geplündert werden sollen, zuschleppt. [„¦] Diese Typen! Im Stillen ist man froh, dass man ihnen nur in einem getreulich nachgebildete St. Pauli begegnet.“ Eine Begegnung mit echten Typen des Milieus hingegen will Willy Fritsch erlebt haben, als er während der Außenaufnahmen in seiner Maske als Seemann einigen Hafenarbeitern begegnet und ihnen, um sie vom Filmset wegzulotsen, falsche Auskünfte erteilt: „Scheinbar waren meine „˜Auskünfte’ nicht ganz richtig. Jedenfalls fasste mich plötzlich einer dieser Arbeiter am Halstuch und sprach wenig höfliche Worte. „˜Wenn do mi wat vorflunkerst, min Jung, ramm ick di den Klüverbaum gegen den Achtersteven, dat du’n Haifisch für dine Großmodder hälst!’ Dabei war der Kerl groß wie ein Wolkenkratzer“, schildert wohl eher sein Presseagent der Zeitschrift Mein Film und legt dem Darsteller in demselben Artikel freimütig die Erkenntnis in den Mund, seitdem eine gewisse Scheu vor der Stadt Hamburg zu verspüren und der Stadt Berlin entschieden den Vorzug zu geben. Dass Willy Fritsch in Hamburg die letzten achtundzwanzig Jahre seines Lebens verbringen wird, kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.
Während der laufenden Dreharbeiten hat Fritsch auch immer wieder Promotiontermine zu erfüllen. Schließlich will man dem Hamburger Publikum nicht vorenthalten, dass sich der beliebte Schauspieler in der Stadt aufhält, und so erscheint er unter anderem am 11. Mai 1928 im Hamburger „Lessing-Theater“ anlässlich der Wiederaufführung von „Ein Walzertraum“ und um über seine neueste Produktion zu plaudern. Dass diese beinahe nicht in die Kinos kommt, ahnt er nicht.
Als die Ufa „Die Carmen von St. Pauli“ Ende Mai 1928 der Filmprüfstelle zur Freigabe vorlegt, wird der Film sofort verboten. Trotz gelockerter Moralvorstellungen erscheint die Filmhandlung dem Prüfungsausschuss zu freizügig. Nach einer Beschwerde der Ufa beginnt die Odyssee durch verschiedene Instanzen von Filmprüfstelle und Film-Oberprüfstelle. Wenige Tage nach dem Vollverbot erreichen die Anwälte der Ufa zumindest eine Teilzulassung unter Jugendverbot mit Schnittauflage, die nach erfolgten Kürzungen am 25. Juli 1928 auch bestätigt wird. Nach dem Einspruch zweier Beisitzer befasst sich die Film-Oberprüfstelle eine Woche später ebenfalls mit dem Werk und legt weitere Schnitte fest, so dass der Film am 2. August 1928, gekürzt um einhundertzwanzig Meter Film, endgültig freigegeben werden kann, wenn auch weiterhin unter Jugendverbot.
Nach heutigem Maßstab mutet die Zensur nahezu niedlich an: „Die Kußscene [sic!] in Akt III nach Titel 2, wobei Klaus Jenny auf die Brust küsst, ihren Körper betastet und versucht, sie aufs Sofa zu legen, ist geeignet, Lüsternheit zu erwecken und damit entsittlichend zu wirken. In Verbindung damit hat die Oberprüfstelle auch die Bildfolge verboten, die zeigt, wie Carmen danach ihre derangierten Kleider in Ordnung bringt. [„¦] Derselbe Verbotsgrund ist von der Prüfstelle zutreffend auf die Bildfolgen angewandt worden, die zeigen, wie der „˜Stift’ das Liebesspiel in Carmens Zimmer belauscht (Akt III nach Titel 3) und wie Carmen mit dem bestrumpften Fuß unter dem Tisch das Bein des Klaus liebkost (Akt IV nach Titel 7).“
Durch die auferlegten Kürzungen werden der Handlungsablauf und die Dramatik des Films empfindlich gestört, so dass der Film-Kurier nach der Premiere am 10. Oktober 1928 in seiner Filmkritik bemerkt: „Jenny Jugo hat den größten Filmerfolg in ihrer Karriere. Selbst da, wo der böse deutsche Zensor ein paar wichtige Übergänge aus ihrer Rolle schneidet: ihr Fluidum wirkt.“ Auch die Fachzeitschrift Der Film bemängelt interessant gestaltete Einzelbilder, „als Ganzes aber zerflattert, ohne Richtung, Linie und Ziel“, während die Berliner Morgenpost wiederum Willy Fritschs Rolle als „dramaturgisch verkorkst“ bezeichnet. Das Berliner Premierenpublikum im Ufa-Palast am Zoo ist trotzdem begeistert und spendet reichlich Applaus. Willy Fritsch ist zufrieden, schließlich kommt seine facettenreiche Rolle dem in einem Schauspieler-Almanach des Jahres 1928 geäußerten Wunsch sehr nahe: „Es ist selbstverständlich, dass mir heute der Film viel mehr bedeutet als das Theater, auch in künstlerischer Hinsicht. Ich bin nicht begeistert von meinen Liebhaberrollen, ziehe jugendliche Charakterrollen mit dramatischem Einschlag vor. [„¦] Für mein Gefühl ist die Filmkunst künstlerisch hochwertig, oder sie könnte es sein, wenn die Industrie die Filmproduktion unter ernsteren künstlerischen Gesichtspunkten betreiben würde. Dass dieses eines Tages der Fall sein möge, ist mein ganzer Wunsch.“
Die Zeit bis zum Beginn seiner nächsten Dreharbeiten nutzt der Schauspieler für einen Kurzurlaub. Bevorzugte Reiseziele sind die Ostseeinseln Rügen und Usedom sowie die damals für den gering verdienenden Bürger noch recht unerschwingliche Nordseeinsel Sylt. Seit Mitte der Zwanziger Jahre führt der Impresario Wolfgang Fischer alljährliche Prominentenparties auf der Insel durch, und es gehört zum guten Ton, seinem so genannten „Club der Westerländer“ anzugehören. Auch Willy Fritsch schließt sich hier nicht aus.
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Wir empfehlen die Willy-Fritsch-Biografie von Heike Goldbach. Ein umfassendes Werk, das nicht nur das Leben eines echten deutschen Schauspiel-Stars beschreibt, sondern nebenbei auch viel über die Geschichte des deutschen Films von der Weimarer Republik bis in das Nachkriegsdeutschland erzählt. Mit Genehmigung der Autorin dürfen wir einen Auszug aus dem Buch publizieren, der die Zeit der Dreharbeiten zu „Die Carmen von St. Pauli“ aus der Perspektive des Schauspielers beschreibt: „Ein Feuerwerk an Charme – Willy Fritsch: Der Ufa-Schauspieler. Über eine große Filmkarriere in wechselhaften Zeiten“, Heike Goldbach, Verlag: tredition.
Links:
- Alles zum Buch hier: https://willy-fritsch.de/das-buch/
- Interview mit Heike Goldbach zum Buch
— BU —
1: Bericht über Uraufführung im UFA-Palast: Der Film Nr. 41, 13.10.1928
2: Willy Fritsch-Kolumne in der Film-Woche Nr. 28, 1930
3: Bericht über Uraufführung im UFA-Palast – Berliner Morgen-Post, 14.10.1928
4: Willy Fritsch schreibt in Mein Film Nr. 148, 1928