60. Nordische Filmtage Lübeck 2018

Für eine Handvoll Filme aus Schleswig-Holstein

Das Filmforum auf den Nordischen Filmtagen Lübeck 2018

Schon vor Beginn der 60. Nordischen Filmtage Lübeck bot die Programmauswahl des dortigen Filmforums in der Filmszene Schleswig-Holsteins Grund zu mancherlei Diskussionen. Und das nicht zum ersten Mal. Dabei ging es nicht um die filmische Qualität, sondern um die Provenienz der Filme. Ist doch der Programmschwerpunkt des ehemaligen Filmforum Schleswig-Holstein seit dem Zusammenschluss der FilmFörderung Hamburg GmbH mit der Kulturellen Filmförderung Schleswig-Holstein zur Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein GmbH 2008 grundlegend geändert worden. Aus einem Schaufenster für Filme aus Schleswig-Holstein auf einem internationalen Festival hat sich eine weitere Abspielpattform für Hamburger Filme entwickelt, auf der die schleswig-holsteinische Filme bestenfalls die zweite Geige spielen dürfen, und zu alledem auch noch eine verhältnismäßig große Anzahl von Fernsehproduktionen kleineren, unabhängig produzierten Filmen die Programmplätze streitig macht. Was dadurch auch für die Nordischen Filmtage verloren geht, verdeutlicht eine Eloge der ehemaligen künstlerischen Leiterin der Nordischen Filmtage (1987-1993), Andrea Kunsemüller, aus dem Jahre 1993:
„Filmforum Schleswig-Holstein im Rahmen der Nordischen Filmtage Lübeck“. Eine merkwürdige Wortkonstruktion. Die Nordischen Filmtage will ich, kann ich nicht ohne die Filme von Schleswig-Holstein denken. Das wäre wie irgendwo im luftleeren Raum schwimmen. Ohne Widerstand (ach, wie schön!), aber auch ohne Anhaltspunkt. Gut, man kann nicht gegen einen Oscar oder die Goldene Palme anstinken (von denen es ja auch nur ganz wenige gibt), aber weiß Gott, wir müssen uns doch nicht verstecken! Die anderen kochen auch nur mit Wasser. Allerdings international mit englischen Untertiteln. Warum sollen wir das nicht auch machen können? Die Nordischen Filmtage bieten ein so gutes Forum für schleswig-holsteinische Filme! Gebe Gott oder an wen auch immer die Politiker glauben, daß der Kultursenator bald ein Einsehen hat und den Beginn der Nordischen Filmtage auf den Donnerstag verlegt statt ihn wie bisher auf den Freitag zu setzen, wo alles schon einen Tag läuft und wir mittendrin im Festival sind. Dann wäre auch das Filmforum Schleswig-Holstein nicht nur „im Rahmen der …‘!!!
(Andrea Kunsemüller: „3 Jahre Kulturelle Filmförderung aus der Perspektive der Nordischen Filmtage Lübeck“, in: Kulturelle Filmförderung Schleswig-Holstein 1989-1993, Seite 18)
Katalog-Cover des 1. Filmforum SH 1988 (Foto: Archiv)
Im Folgenden soll eine Darstellung der Herkunft, ursprünglichen Ziele und heutigen Zusammensetzung des Filmforums, ehemals Filmforum Schleswig-Holstein, gegeben werden, wobei ich mich auf die Herkunft der Filme konzentriere. Dabei beansprucht diese kleine Bestandsaufnahme weder Vollständigkeit noch Ausgewogenheit, sondern will prononciert einen weiteren Anstoß für konstruktive Diskussionen geben.
Was ist die selbstgestellte Aufgabe des Filmforums der Nordischen Filmtage Lübeck? – Nun, laut Bekunden der (alleinigen) Programmkuratorin Doris Bandhold ist es Ziel, „eine große Bandbreite unterschiedlicher Themen und Genres zu präsentieren, um einen möglichst umfassenden Einblick in das Filmschaffen aus Hamburg und Schleswig-Holstein zu geben“. Denn, wie heißt es so schön, wenn auch im letzten Satz zu euphemistisch auf der Homepage der Nordischen: „Das Filmforum ist das Schaufenster des norddeutschen Filmschaffens und bietet etablierten Filmemachern sowie Nachwuchstalenten die Chance, ihre Werke einem internationalen Publikum zu zeigen. Viele Filmemacher verdanken dem Filmforum u.a. die Einladung zu weiteren in- und ausländischen Festivals oder haben bei den Nordischen Filmtagen Lübeck einen Verleih oder Weltvertrieb gefunden.“
Programm des 1. Filmforum SH 1988 (Foto: Archiv)
Der Vorläufer des heutigen Filmforums war das Filmforum Schleswig-Holstein. Es wurde 1988 vom Lübecker Kommunalen Kino im „Zentrum“ in der Mengstraße und dessen Leiterin Linde Fröhlich initiiert, die heute die künstlerische Leiterin der Nordischen Filmtage ist. Es war lange Zeit noch nicht offizieller Bestandteil der Filmtage, sondern diesen (bis einschließlich 1997) unmittelbar vorgeschaltet, in Verantwortung des Kommunalen Kinos.
Im Vorwort des ersten kleinen Katalogs weist Linde Fröhlich auf die Bedeutung des Filmforums Schleswig-Holstein für die damals laufende Diskussion um eine Landesfilmförderung hin, die schließlich im Herbst 1989 in die Gründung des Vereins Kulturelle Filmförderung Schleswig-Holstein mündete, und formuliert dann die Programmatik des Filmforums anno 1988 so:
„In diesem Sinne ist das Filmforum Schleswig-Holstein auch eine Bestandsaufnahme. Wie wollen hier nicht nur die ’Highlights’ präsentieren, sondern die Breite der filmischen Bemühungen dokumentieren. (…) Aber selbst in diesem Programm können wir nicht alles zeigen, sondern lediglich einen gewissen Einblick in das Filmschaffen dieses Landes gewähren. Dabei sind professionelle Produktionen ebenso vertreten wie Nachwuchsarbeiten. (…) Selbst die ’großen’ Filme des Programms sind eigentlich ’low budget’-Produktionen. Ihr Entstehen verdanken sie Förderungsinstanzen außerhalb des Landes. (…)
Somit will das Filmforum Schleswig-Holstein auch den visuellen Hintergrund und die kommunikativen Vorrausetzungen für die Filmförderdiskussion im Lande bieten. Es soll FilmemacherInnen, Publikum und politisch Verantwortlichen Gelegenheit geben, miteinander in Kontakt zu treten, zu sehen, was es gibt, und zu besprechen, was es braucht.“
Für zwei Jahrzehnte wurde dann das Filmforum Schleswig-Holstein zum Schaufenster der wachsenden Produktion einer kleinen, aber dennoch ambitionierten Kulturellen Filmförderung unter dem jederzeit und allerorten erfolgreich umtriebigen Leiter und Geschäftsführer Bernd-Günther Nahm. Alljährlich präsentierte das Filmforum Schleswig-Holstein die Früchte der finanziellen, aber auch praktischen bis ins Strukturelle hineinreichenden Kulturellen Filmförderung Schleswig-Holstein, deren Resultate sich auch in einer Art von Talentschmiede darstellten. Die „Zöglinge“ der Förderung (und auch der LAG Film, als Jugendfilmförderung, mit Sitz auf dem Scheersberg bei Flensburg) suchten und fanden ihr Glück zum Teil auch als professionelle Film- und Fernsehschaffende außerhalb des Landes zwischen den Meeren. Genannt seien hier stellvertretend Lars Jessen, Lars Büchel, Miguel Alexandre, Christian Theede, Till Franzen und Antje Hubert. Es blieben trotz der bis heute immer noch schwächelnden filmischen Infrastruktur auch etliche Filmer*innen im Lande, wie z. B. Quinka Stöhr und Fredo Wulf, Kai Zimmer (als „Dauergast“ aus Berlin), Gerald Grote und Claus Oppermann, nicht zu vergessen die nachwachsenden Talente.
Das Filmforum Schleswig-Holstein, geboren aus dem Willen, endlich auch für den Film aus Schleswig-Holstein eine Festivalplattform zu haben, wurde wie selbstverständlich zur Festivalheimat der hiesigen Filmemacher*innen, aber auch derjenigen, die nun jenseits der Landesgrenzen Filme machten, ihrer filmischen Herkunft dennoch verbunden blieben. Von dieser Basis aus konnten nun auch nationale und internationale Vergleiche und Bezüge neu begründet und gepflegt werden. Das Filmforum Schleswig-Holstein gehörte somit nicht nur dem Lübecker und dem internationalen Publikum mit seinen Gästen aus Nord- und Osteuropa und darüber hinaus, sondern bot der hiesigen Filmszene auch die Möglichkeit, mit seinen heimischen Produktionen bis in die Ferne zu strahlen.
Endlich hatte das nördliche Bundesland ein cineastisches Forum, das über den sogenannten Tellerrand hinaus verwies, ohne dass die eigene Identität hinten an gestellt werden musste. So konnte Linde Fröhlich nach zehn Jahren nicht ohne Stolz bilanzieren 240 Filme haben wir bisher präsentiert. 32 weitere erwarten uns dieses Jahr. Einige der Filmemacherinnen und Filmemacher sind alte Bekannte, deren Schaffen wir über die Jahre begleitet haben, andere sind vielversprechende junge Talente, von denen wir uns noch viel erhoffen“ und meine Wenigkeit in einem Aufsatz im selben Forumskatalog von 2007, „dort wie hier, damals (1988) wie heute, geht es um öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung, um Filme-Zeigen und -Sehen, um Erfahren und Lernen, Meinungsaustausch und Kontaktpflege, Spaß und Unterhaltung im doppelten Sinne.“ (beides auf www.luebeck.de/filmtage/97/filmforum/zehnjahre.html)
Doch die Zeiten, die Umstände und die Maßstäbe änderten sich nach 20 Jahren gewaltig. Schwärmte 2004 Ute Erdsiek-Rave, damalige Ministerin für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein, in einem Grußwort zum Filmforum Schleswig-Holstein im Katalog der Nordischen noch vom „Schaufenster der Filmförderungsinitiativen des Landes und vom wichtigen Treffpunkt der hiesigen Filmemacher“, so versuchte 2008 Angela Buske, die damalige künstlerische Leiterin der jetzt als bloß noch als „Filmforum“ firmierenden Programmsparte, die Veränderung, um nicht zu sagen den Bruch, mit der bisherigen Programmkontinuität, was die Herkunft der Produktionen bzw. ihrer Macher*innen betraf, unter der Überschrift „Schleswig-Holstein – International wie immer“ zu bemänteln. Nicht nur Hamburg sei „durch die gemeinsame Filmförderung ein Stückchen näher gerückt ….“ (Vorwort im Katalog der Nordischen Filmtage Lübeck 2008, Seite 8).
„Ein Stückchen näher gerückt“ ist beschönigend ausgedrückt! Salopp gesagt setzte ein stetiger Verdrängungsprozess ein. Die 2007 fusionierte Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein schuf sich binnen weniger Jahre eine weitere Abspielbasis für Hamburger Produktionen auf einem mittleren, immer noch wachsenden internationalen Filmfestival, was auf Kosten der ursprünglichen Idee ging, besonders für im weitesten Sinne schleswig-holsteinische Filme wenigstens eine konstante Festivalpräsenz zu sichern. Waren noch 2007 Hamburger Filme zu Gast im (schleswig-holsteinschen) Filmforum – 70 Prozent der Langfilme kamen aus Schleswig-Holstein -, so hat sich das Verhältnis inzwischen mehr als umgedreht. Schleswig-holsteinischen Filme werden quasi ein paar Extraplätze unter all den Hamburger Produktionen eingeräumt. Wie hieß es doch so schön an anderer Stelle (Fußball-WM 2006)? —> „Zu Gast bei Freunden.“ – Und wer muss sich inzwischen in Lübeck tendenziell mit der Gastrolle begnügen? – Nun, die Hamburger Filmszene, in Gestalt einer repräsentativen Auswahl ihrer Filme im Filmforum, scheint schleswig-holsteinischen Filmen ein Gastrecht einzuräumen und das in Schleswig-Holstein.
Bevor ich das mit einer genaueren quantitativen Betrachtung des Programms des Filmforums 2018 belegen möchte, will ich nicht verschweigen, dass mein 99-minütiger Dokumentarfilm Mutanga (der Abschluss meiner „Kenianischen Trilogie“, von der die ersten beiden Filme noch auf den Nordischen Filmtagen Lübeck gezeigt wurden) zu den Filmen gehört, die nicht fürs diesjährige Programm ausgewählt worden sind, was ich trotz einer Erklärung der Entscheidung von der Kuratorin Doris Bandhold nicht nachvollziehen kann. Umso mehr bemühe ich mich hier um einen nachprüfbaren Faktenscheck.
Betrachtet man das Gesamtprogramm des Filmforums genauer, fällt einem als Erstes auf, dass mehr als ein Viertel der über einen Zeitraum von sechs Tagen sich erstreckenden Vorstellungen mit reinen TV-Produktionen bestückt wurden. Sieben von insgesamt 27 Einzelvorstellungen wurden mit Fernsehkost abgedeckt. Zieht man die Gesamtzahl der Vorstellung in Betracht, so ist das relativ viel. Wenn man noch Verständnis dafür aufbringen kann, dass die sogenannten Landeskinder, wie der sehr erfolgreiche Miguel Alexandre (ehemals Lübeck) mit Der Mordanschlag und auch Christian Theede (ehemals Flensburg) mit Sarah Kohr – Das verschwundene Mädchen, die inzwischen mit ihren Fernsehfilmen beachtlich reüssieren, im Programm vertreten waren sowie auch der dokumentarische TV-Spielfilm-Hybrid 1918. Aufstand der Matrosen von Jens Becker über den Anfang der deutschen Revolution von 1918 in Kiel, so scheint doch die Frage berechtigt, ob nun jedes Jahr ein Kieler Tatort (Borowski und das Glück der anderen), und eine neue Folge des Tatortreiniger (Rebellen) im Filmforum laufen müssen, ebenso wie auch fast jährlich eine Märchenfilmproduktion (Das Märchen von der Regentrude) für das kommende TV-Weihnachtsprogramm. Ganz zu schweigen von den weiteren TV-Filmen, nämlich Hermine Huntgeburths Krimi-Komödie Tödliches Comeback und Esther Bialas‘ Wo kein Schatten fällt (aus der „Nordlichter“-Staffel 2017 im Nachwuchsprogramm des NDR, bereits kurz nach dem Festival, am 08.11.2018, 22:50 Uhr, im NDR-Fernsehen zu sehen).
Im Übrigen fragt man sich auch, ob nun viele der NDR-Produktionen und -Koproduktionen, die man sich gerade erst beim Hamburger Filmfest sich anschauen konnte, unbedingt wenige Wochen später schon wieder (man könnte meinen, wie selbstverständlich) ins Lübecker Programm gehören? Zu diesen sich wie auf „Festivaltournee“ befindlichen Filmen gehören auch die NDR-Koproduktionen Another Day of Life (Regie: Raúl de la Fuente, Damian Nenow), Im Land meiner Kinder (Regie: Dario Aguirre) und Die Hälfte der Welt gehört uns – Als Frauen das Wahlrecht erkämpften (Regie: Annette Baumeister). Auch fünf weitere Langfilme hatte das Filmfest Hamburg schon im Programm (hier in der zeitlichen Reihenfolge ihrer Vorführungen in Lübeck notiert): Sibel (Regie: CaÄŸla Zencirci, GuillaumeGiovanetti), Von Bienen und Blumen (Regie: Lola Randl), Starke Frauen auf St. Pauli (Regie: Rasmus Gerlach. Ein Hamburger Filmemachen, der bei guten Willen jedoch auch als schleswig-holsteinisches „Landeskind“ zu definieren ist. 1963 in Hamburg geboren verlebte er Teile seiner Jugend in Kiel. Bisweilen treibt die Landeskinder-Einstufung halt absurde Blüten. Oder ab wieviel Monaten oder Jahren in Schleswig-Holstein gilt man als Landesskind? Oder muss man dafür seine „filmische Sozialisation“ in Lande zwischen den Meeren erlebt haben?), Was uns nicht umbringt (Regie: Sandra Nettelbeck), All Creatures Welcome (Regie: SandraTrostel). Als neue Hamburger Langfilme kamen noch hinzu: An den Rändern der Welt (Regie: Thomas Tielsch), Goliath96 (Regie: Marcus Richardt), Das schönste Paar (Regie: Sven Taddicken).
Eine kleine Zwischenbilanz, damit wir nach all den Filmtiteln nicht die Übersicht verlieren. 16 der 27 Vorführungen waren an Hamburger Produktionen vergeben. Hinzu kommen noch mit Der Mordanschlag und Sarah Kohr: Das verschwundene Mädchen zwei ZDF-Auftragsproduktionen. Betrachtet man jetzt noch die vier Kurzfilmprogramme gesondert, ebenso die Berliner Produktion Hans Blumenberg – Der unsichtbare Philosoph (Regie: Christoph Rüter), bleiben noch vier ganze Vorstellungen originären Langfilmen aus Schleswig-Holstein vorbehalten. Also rund 15 Prozent der Kinovorstellungen des Filmforums für die Filme: Auch Leben ist eine Kunst – Der Fall Max Emden (Regie: Eva Gerberding, André Schäfer), Nach dem letzten Schuss ist der Krieg noch nicht vorbei (Regie: Kay Gerdes, Jess Hansen) und Khello-Brüder (Regie: Hille Norden) [in einem Programm], Mann auf Blau (Regie: Friedrich Tiedtke) und Es ist Zeit – Der Maler Klaus Fußmann (Regie: Wilfried Hauke) [in einem Programm], HolsteinHerz (Regie: Jess Hansen, Johanna Jannsen).
Kommt das Filmforum seinem doch sehr allgemein formulierten Vorsatz „eine große Bandbreite unterschiedlicher Themen und Genres zu präsentieren, um einen möglichst umfassenden Einblick in das Filmschaffen aus Hamburg zu geben“ (Doris Bandholz) sicherlich schon relativ nahe, so kann dieses Ziel, was Schleswig-Holstein betrifft, mit dieser spärlichen Filmauswahl aus dem nördlichsten Bundesland wohl schwerlich erreicht werden.

Gewiss muss der Kuratorin bei der Ausgestaltung des Programms Autonomie zugebilligt werden. Dennoch sollte es gewisse transparente Kriterien geben, die über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinausweisen, nämlich den, dass alle Filme „einen Bezug zu Schleswig-Holstein oder Hamburg aufweisen“ müssen. Geht man davon aus, dass jeder Film des Filmforums für sich genommen es wert ist, dort gezeigt zu werden, so bleiben dennoch Fragen nach den eigentlichen Auswahlkriterien, nach der Gewichtung der eingereichten Filme, nach möglichen Vorgaben und Zielen, auf die bei der Auswahl der Filme Rücksicht genommen werden sollte oder worden ist:
1. Ist es wirklich unumgänglich, viele der im Vergleich zur Nachfrage doch relativ rar gesäten Programmplätze mit TV-Produktionen zu besetzen, die oftmals, wie es die letzten Jahre zeigten, zwar gehobene Fernsehunterhaltung (aber) der konventionellen Art bieten und deshalb eigentlich nichts auf einem Kinofilmfestival zu suchen haben, das auch der Filmkunst verpflichtet ist? Und selbst wenn hehre Ansprüche nicht immer erfüllt werden, sollte es den Zuschauern des Filmforums nicht stärker ermöglicht werden, lohnende filmische Entdeckungen zu machen? Sollte man nicht Filme sehen dürfen, die in Form und Inhalt über den Tellerrand der alltäglichen Fernsehkost hinaus reichen, gerade, weil sie den konventionellen Ansprüchen der Sendeanstalten nicht entsprechen? Also, was haben „Borowski“, „Tatortermittler“ und andere standardisierte TV-Protagonisten des ewig Gleichen auf den Nordischen Filmtagen zu suchen, wo sie doch ihre verdienten Plätze im Abendprogramm des Fernsehens haben? Oder ist der uneingestandene Einfluss des NDR auf das Festival zu groß, um auf diese Filme verzichten zu dürfen?
2. Sind schleswig-holsteinische Filme, die es im Allgemeinen wegen ihrer Low- bis No-Budget-Produktions- und ihrer ebenso schwachen Vertriebsstruktur sowieso nicht leicht haben, bei den Nordischen Filmtagen aufgrund der Hamburger Ansprüche auf Plätze im Programm nicht schon von vorne herein benachteiligt? Sollten nicht gerade die Filme dieser wahren „Indies“, die oft nicht nur finanziell, sondern auch inhaltlich ins Risiko gehen, gezeigt werden? Kann man nicht berücksichtigen, dass gerade bei denen, denen selten eine echte Kinoauswertung geschweige denn ein Sendeplatz im Fernsehen beschieden ist, eine Festivalvorführung umso schwerer wiegt? Kann man ihnen nicht wenigstens auf ihrem ursprünglich einzigen festen Programmplatz bei einem relativ großen internationalen Festival, nämlich beim Filmforum in Lübeck, eine faire Chance zubilligen?
3. Kommt das Programm womöglich in der Berücksichtigung der Länderanteile vor allem den prozentualen Anteilen beider Länder an der Gesamtproduktion nahe? Sollte man nicht hier bei einem Festival in Schleswig-Holstein gegensteuern dürfen? Warum nicht die unterschiedlichen strukturellen Verhältnisse von Hamburg und Schleswig-Holstein gerechter berücksichtigen, anstatt jedes Jahr einen Extrakt des Standardprogramms der hamburgischen Eigenproduktionen und NDR-Filme quasi direkt vom Filmfest Hamburg ins Filmforum der Nordischen Filmtage Lübeck zu transferieren? Kann man nicht mehr Gewicht auf eine quasi Vertriebsförderung der Kleinen legen, als rundum gut geförderten Produktionen der Medienstadt Hamburg auch hier noch eine weitere Unterstützung zukommen lassen zu müssen?
4. Will das Filmforum auch zukünftig ernsthaft sein Profil mit der nicht ausgesprochenen, aber dennoch latent mitschwingenden Behauptung definieren, das Filmschaffen in Hamburg und Schleswig-Holstein gleichrangig abzubilden, obwohl seine Filmauswahl eindeutig Hamburg bevorzugt? Soll das Filmentwicklungsland Schleswig-Holstein weiterhin wie im letzten Jahrzehnt stiefmütterlich mit einer Handvoll von Programmplätzen abgespeist werden, anstatt seine strukturelle Entwicklung auch durch verstärkte Beachtung durch die Nordischen Filmtage Lübeck zu befördern? Glaubt man ernsthaft, so die Fördergelder der Filmwerkstatt Kiel der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein und der Landesregierung in Kiel im Sinne der Geldgeber einzusetzen?
5: Was ist die Meinung der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein zur dieser Problematik, wie positioniert sich die Filmwerkstatt Kiel dazu? (Helmut Schulzeck)

Nachtrag 1:

Ein kleines Definitionsspiel für unsere Statistikfreunde, mit dem man schön den dargestellten, eindeutigen Befund nicht nur abmildern, sondern fast entkräften kann, sei hier noch angefügt. Geht man nicht von der Anzahl aller Vorstellungen aus, sondern nimmt die Gesamtzahl aller Filme des Filmforums (46), inklusive aller Kurzfilme und Fernsehproduktionen, berücksichtigt auch den sogenannten Schleswig-Holstein-Bezug, das heißt, rechnet die Filme hinzu, die in Schleswig-Holstein zu erheblichen Teilen gedreht wurden oder einen thematischen bzw. inhaltlichen Bezug zum Bundesland aufweisen und vergisst auch nicht die sogenannten „Landeskinder“, also die auswärtigen Filmemacher, die in Schleswig-Holstein aufgewachsen sind, dann ergibt sich in etwa ein Verhältnis von ca. 60 Prozent Hamburger Filme (26) zu 40 Prozent Filme aus Schleswig-Holstein (19). Diese Prozentrechnung fußt auf folgender Grundannahme, welche Filme Schleswig-Holstein zu zuordnen wären:

  • 1918. Aufstand der Matrosen – Regie: Jens Becker (NDR, Arte, SH-Bezug)
  • 5 Prozent Heimat – Regie: Johann Schulz
  • A Year Along the Geostationary Orbit – Regie: Felix Dierich
  • Aber was ist mit der Show? – Regie: Jano Kaltenbach
  • Auch Leben ist eine Kunst – Der Fall Max Emden (Regie: Eva Gerberding, André Schäfer)
  • Das Märchen von der Regentrude – Regie: Klaus Knoesel (NDR, SH-Bezug)
  • Der Mordanschlag – Regie: Miguel Alexandre (ZDF, „Landeskind“)
  • Der Tatortreiniger – Regie: Arne Feldhusen (NDR, „Landeskind“)
  • Drinnen wird nicht geraucht – Regie: Philipp Westerfeld
  • Es ist Zeit. Der Maler Klaus Fußmann – Regie: Wilfried Hauke
  • Forsthaus – Regie: Paul-Vincent Mayr (Drehort in SH)
  • Hans Blumenberg – Der unsichtbare Philosoph – Regie: Christoph Rüter (SH-Bezug)
  • HolsteinHerz – Regie: Jess Hansen, Johanna Jannsen
  • Khello Brüder– Regie: Hille Norden
  • Mann auf Blau – Regie: Friedrich Tiedke
  • Mein Vater der Fisch – Regie: Britta Potthoff
  • Nach dem letzten Schuss ist der Krieg noch nicht vorbei – Regie: Kay Gerdes, Jess Hansen
  • Sarah Kohr: Das verschwundene Mädchen – Regie: Christian Theede (ZDF, „Landeskind“)
  • Tatort: Borowski und das Glück der Anderen – Regie: Andreas Kleinert (NDR, SH-Bezug)

und Goliath96 – Regie: Marcus Richard (Auch dieser Film ist ein SH-Film. Denn die debütierende Produzentin, Rike Steyer, ist in Lübeck aufgewachsen und hat sich damit für die Kategorie „Landeskind“ qualifiziert.)

Das gleiche Spiel wurde mit viel Fleiß 2017 für das damalige Kinoprogramm, angestellt, als vom einem Kieler Filmblog www.filmszene-sh.de alle Filmlängen gleichwertig in einen Statistiktopf geworfen wurden und somit 22 Filme aus Schleswig-Holstein 22 auswärtigen Filmen scheinbar paritätisch gegenüberstanden [„In diesem Jahr kommen 22 der insgesamt 44 gezeigten Filme aus Schleswig-Holstein, was eine erfreuliche Entwicklung darstellt, kam es doch in den letzten Jahren zu einer deutlichen Unterrepräsentation der Filmemacher aus dem hohen Norden.“ (www.filmszene-sh.de/30-jahr-filmforum-nordische-filmtage-luebeck/)], ohne zu berücksichtigen, dass von den 24 Programmplätzen allein 15 mit Hamburger Langfilmen besetzt wurden und zu bedenken, dass ein Langfilm immer präsenter ist als ein Kurzfilm, der sich mit anderen eine Vorstellung teilt, die ein Langfilm alleine beansprucht.

Nachtrag 2:

Last but not least soll dennoch der unermüdliche Einsatz von Jessica Dahlke für die schleswig-holsteinschen Filmschaffenden, unter anderen mit ihren Web-Publikationen auf www.filmszene-sh.de, nicht unterschlagen werden, indem ich aus ihrem schon vor den 60. Nordischen Filmtagen Lübeck dort erschienenen Artikel „Nordische Filmtage Lübeck: Offene Wunde Filmforum Lübeck?“ folgende Statistikpassage zitiere:
Schleswig-Holstein zu Gast im eigenen Filmforum
Betrachtet man die Filmauswahl der letzten sieben Jahre (nur Titel, nicht nach Spielzeit), so gibt allein dieser kurze Zeitraum ein trauriges Bild wieder. Selbst im guten Jahr 2017 wurde ein Anteil von 50 Prozent nicht erreicht. 2015 rutschte dieser sogar auf 25 Prozent. Zählte man nur originäre Filme aus Schleswig-Holstein oder berücksichtigte man die Spielzeiten, so wären die Zahlen bei weitem niedriger.
Jahr |
Schleswig-Holstein |
Hamburg |
sonstige (MVP, NS, HB)
2018
39 %
57 %
4 %
2017
48 %
38 %
14 %
2016
29 %
58 %
13 %
2015
25 %
63 %
12 %
2014
41 %
57 %
2 %
2013
33 %
57 %
10 %
2012
38 %
57 %
5 %

In die Zahlen eingerechnet wurde, ob ein SH-Bezug bei den Filmen besteht. Dabei reichte es, wenn Filmschaffende in SH geboren sind, das Thema über Schleswig-Holstein handelt oder in SH vorwiegend (!) gedreht wurde. Die Prozente sind aufgerundet. Sie basieren auf Recherchen über die Filmemacher*innen und Produktionen und haben keinen wissenschaftlichen Anspruch. (Quelle: www.filmszene-sh.de/nordische-filmtage-luebeck-offene-wunde-filmforum-luebeck/)

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