Blick in die kinematographischen Erinnerungsarchive (2):

Hitchcock in Kiel: Durchreise statt Referenz

In einem Programm-Faltblatt der Commerzbank Kiel von 1994, die am Ort des damals schon vier Jahre nicht mehr existierenden Programmkinos REGINA in der Holtenauer Straße 94 als Sponsor des Filmes „Regina Blues“ einen Monat lang erinnerungswürdiges Kieler Kinogeschehen der vergangenen Jahrzehnte ausschnittsweise Revue passieren ließ, hieß es unter anderen, dass unter vielen Filmpersönlichkeiten auch „Alfred Hitchcock (…) der ehemals wichtigen Kinostadt Kiel“ seine „Referenz erwiesen“ hätte.
Programm-Faltblatt „Kieler Kinogeschichte(n)“ (Commerzbank Kiel, 1994, S. 1-3)
Nun, Alfred Hitchcock war tatsächlich in Kiel gewesen, am 26. September 1966, das ist belegt, doch leider nur sehr kurz, auf der Durchreise. Er kommt vom Fährschiff aus Oslo und steigt praktisch in einen Mercedes um, der ihn nach Hamburg bringt. Also kurze Verabschiedung durch den Schiffskapitän, kurze Begrüßung am Oslo-Kai, ein paar Fotos, ein paar Autogramme. Abfahrt nach Hamburg. Bestenfalls hat also der Regisseur Kiel 15 bis 30 Minuten seine „Referenz erwiesen“.
Heute gerät Hitchcock (1899-1980) bei Jüngeren bisweilen schon in Vergessenheit. Aber in den 1950er und 1960er Jahren war der kleine rundliche Mann mit dem stoischen Blick wohl neben Charlie Chaplin der bekannteste Filmregisseur der Welt. Ein jeder kannte seine Gestalt nicht zuletzt wegen seiner legendären Cameo-Auftritte (siehe auch: www.seitvertreib.de/2010/03/07/cameo-alfred-hitchcock/) in den eigenen Filmen.
Programm-Faltblatt „Kieler Kinogeschichte(n)“ (Commerzbank Kiel, 1994, S. 4)
Als ich im Sommer 1994 anlässlich der oben erwähnten Abendveranstaltungen rund um den Film „Regina Blues“ eine kleine Ausstellung unter dem Titel „Kieler Kinogeschichte(n) der letzten 50 Jahre“ für die Commerzbank-Filiale kuratierte, stieß ich auf ein Privatfoto vom ehemaligen „Kieler Kinokönig“ (andere nannten ihn auch zutreffend „Kieler Monopolisten“) Klaus Scepanik. Es zeigt ihn am damaligen Oslo-Kai zusammen mit Alfred Hitchcock, der wohl gleich in einen Mercedes einsteigen will. (Zwischen beiden noch ein weiterer fülliger Herr, aber mit Hornbrille, den ich bislang noch nicht identifizieren konnte.) Der Ort ist durch seinen Hintergrund eindeutig zu identifizieren. Man erkennt die kahle Fensterfassade des Kieler Schlosses, die der Förde zugewandt ist.
Alfred Hitchcock mit dem „Kieler Kinokönig“ Klaus Scepanik (ganz links) (Foto: André Scepanik)
Ein kleiner Artikel mit Foto des „Kieler Express“ (im Untertitel als „Film- und Anzeigenblatt für Groß-Kiel“ bezeichnet) vom 29. September 1966 weiß Folgendes zu berichten: „Unvor[her]gesehen und plötzlich wie der unheimliche Dritte aus einem seiner vielen Thriller kam am Dienstag Alfred Hitchcock mit der Kronprinz Harald in Kiel an. Während man sich in Hamburg auf dem Flughafen noch auf einen großen Empfang einrichtete, hatte sich der internationale Gruselfilmexperte für eine Schiffsreise entschieden, um seinen neusten Film ‚Der zerrissene Vorhang‘ in Europa persönlich vorzustellen.“
Ausschnitt aus dem Kieler Express vom 29.9.1966
Ein knapper Text wie aus einer Wochenschau. Man meint fasst, die leicht schneidende Stimme, aufdringlich unterlegt mit einem Bernard-Herrmann-Score, zu hören. Latent ein wenig sensationsheischend mit gespieltem Understatement und einer leider misslungenen Anspielung auf einen Hitchcock-Film („Der unsichtbare Dritte“, original: „North by Northwest“) und der abstrusen Titulierung vom „internationalen Gruselfilmexperten“ kommentieren diese sparsamen 17 Zeilen ein unter dem damaligen Zeitungsdruck leidendes Schwarzweißfoto des „Ereignisses“, auf dem der Kapitän des Schiffes den berühmten Regisseur persönlich mit Handschlag verabschiedet. Anstatt den Namen des Kapitäns, nämlich Altvik, zu nennen, wie es professionell üblich wäre, wird dann noch schnell der für den Kinobesitzer Scepanik und den Leser wichtigere Hinweis „Der Film läuft in Kiel ab 14. Oktober“ nachgeschoben.
Hitchcock geht von Bord des Fährschiffes KRONPRINS HARALD (norweg.) am Oslo-Kai und wird vom Kapitän Altvik verabschiedet. Im Bild links seine Ehefrau Alma Hitchcock. Anlass der Reise ist die Premiere seines neuen Films „Der zerrissene Vorhang“. (Foto: Friedrich Magnussen, Quelle: Kieler Stadtarchiv (Kiel 40.295) CC BY-SA 3.0 DE)
Hitchcock und Ehefrau Alma am Olso-Kai. (Foto: Friedrich Magnussen, Quelle: Kieler Stadtarchiv (Kiel 40.297) CC BY-SA 3.0 DE)
Hitchcock schreibt am Oslo-Kai ein Autogramm für einen Fan. (Foto: Friedrich Magnussen, Quelle: Kieler Stadtarchiv (Kiel 40.298) CC BY-SA 3.0 DE)
So „unvorhergesehen und plötzlich“ kann Hitchcocks kurzer „Auftritt“ in Kiel nicht gewesen sein, sonst wären die Fotografen nicht vor Ort gewesen, ganz abgesehen von Klaus Scepanik, der damals nicht bloß den Kieler Kinomarkt beherrschte, sondern auch Präsident des Hauptverbandes Deutscher Filmtheater war. Die besten Fotografien von Hitchcocks kurzem Aufenthalt in Kiel hat der Pressefotograf Friedrich Magnussen gemacht (s.o.). Sie sollen hier nicht vorenthalten werden.
Apropos Hitchcock 1966 in Deutschland: Wer den Meisterregisseur mal in einer spießigen deutschen Talk Show aus der damaligen Zeit erleben möchte, der schaue sich den Mitschnitt von „Frankfurter Stammtisch“ (Hessischer Rundfunk 1966) auf YouTube an: Ein Kompetenter zwischen vier ziemlich dumm daher Schwätzenden. Die Herren sprechen oft über ihn, als ob er nicht am gleichen Tisch säße. Der Höhepunkt der Ignoranz wird mit folgender der Frage des Gastgebers erreicht: „Mr. Hitchcock, Sie haben, glaube ich, in Paris irgend einem jungen Regisseur von der Jungen Welle mal ein ganzes Buch diktiert?“ – Als Truffaut 1966 das Interview-Buch „Le cinéma selon Hitchcock“ (dt.: „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“) herausbrachte, war er längst nicht mehr „irgend ein junger Regisseur“ der Nouvelle Vague, sondern hatte schon 1959 der Regiepreis in Cannes mit „Sie küssten und sie schlugen ihn“ gewonnen und unter anderem 1960 „Schießen Sie auf den Pianisten“ (mit Charles Aznavour) sowie 1962 den legendären Film „Jules und Jim“ gemacht. (Helmut Schulzeck)
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