Voll verstrahlt

Filmgruppe Chaos in der sibirischen Pampa in Kansk

Aus 3.000 eingereichten Filmen wurde ein Beitrag der Kieler Filmgruppe Chaos von einem Festival in Sibirien ausgewählt. Die Festivalorganisatoren luden die Gruppe zur Teilnahme am Event in der russischen Taiga. Hier ein Bericht von der Reise in das Zentrum des asiatischen Kontinents, die bereits einige Zeit zurück liegt.
Die Stadt Kansk liegt am Kilometer 4.344 der Transsibirischen Eisenbahn und gilt als historischer Ort der Verbannung mit berüchtigten Gulag-Straflagern. Diesen abgelegenen Ort verwandelten Moskauer Filmenthusiasten im Laufe der letzten 14 Jahre in ein Zentrum für das zeitgenössische Bewegte Bild. Im Russischen spricht sich Kansk so wie Cannes aus, und darauf spielt das Logo der Kansk International Video Festivals an, eine Gartenschere, die den goldenen Palmenzweig von Cannes zerschneidet. Das russische Festival gefällt sich in rebellischer Haltung und pflegt gleichzeitig den Glamour eines bedeutenden Kulturevents.
Festivaleröffnung mit „Der Finger“ (Fotos: Karsten Weber)
Uns war aufgetragen, dieses Festival mit einer filmischen Live-Performance zu eröffnen. Das Duo für experimentelle Musik mit dem deutschen Namen „Der Finger“ ist dreieinhalbtausend Kilometer aus Moskau angereist, um zu unseren Projektionen einen Soundtrack zu improvisieren. Wir quälten uns durch einen Tag der Vorbereitung mit vier ukrainischen Filmprojektoren, von denen einer sich mit unheimlichen Geräuschen und einer schwarzen Rauchwolke verabschiedete. Nach unzähligen Filmrissen bekamen wir die betagte Technik in den Griff. Die mit Farbfiltern und Tricklinsen verfremdeten Ausschnitte eines klassischen russischen Spielfilms füllten die riesige Bühne des Kulturpalastes aus Sowjetzeiten. Die jazzigen und düsteren Klänge des Moskauer Duos verliehen den flackernden Bildern eine bedrohliche und geisterhafte Atmosphäre. Frenetischer Applaus und Bravo-Rufe zeigten, dass unser Experiment der Dekonstruktion sowjetischen Filmschaffens aufging und nicht als Respektlosigkeit empfunden wurde.
Filmgruppe Chaos (Sascha Wölck, Karsten Weber) und „Der Finger“ auf der Bühne
Den Internationalen Gästen des Festivals wurde ein ausgiebiges Kulturprogramm geboten – mit Stadtführung und Ausflügen in Sibirische Dörfer. Sibirien ist eine andere Welt. Die Temperaturen im Sommer gehen über 30 Grad Celsius und fallen auf unter minus 40 Grad Celsius im Winter. Die Dörfer mit den windschiefen Holzhäusern wirken wie aus der Zeit gefallen, und in der Region scheint die Sowjetunion weiterzuleben. Die meisten PKW und die das Stadtbild prägenden Busse, alle mit Schaffnerinnen für den Fahrkartenverkauf, sind mehr als drei Jahrzehnte alt.
Lenin und „Der goldene Reiter“ („Hey, hey, hey, ich war so hoch auf der Leiter“ – Joachim Witt)
Lenin-Statuen und Denkmäler der Sowjetunion werden gepflegt, und insbesondere der Große Vaterländische Krieg, für den Kansk einen hohen Blutzoll gezahlt hat, ist allgegenwärtig in Mahnmalen und Alltagskultur. In unserem Hotel wachte eine Lenin-Büste über die Hotelküche. Nicht nur klimatisch verlangt die Region ihren Einwohnern einiges ab, die ökonomische Situation vieler ist nicht einfach bei einem Monatslohn von rund 100 EUR für einen Arbeiter. Bei vielen sozial abgehängten Menschen fallen Nationalismus und der Traum von den großen Zeiten der Sowjetunion auf fruchtbaren Boden. Der Haustechniker des Festivalortes trug ein CCCP-Shirt mit Hammer und Sichel.
Auch in der Hotelküche präsent: Lenin
Die Gegend ist auch berühmt für ihre Gulags. In einem historischen Museum wird mit Erinnerungen an diesen Teil der Geschichte nicht gespart. Der Reiseleiter ließ manch zynischen Kommentar über die Stalin-Zeit fallen. Die Region ist von den revolutionären Wirren stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Ganze Dörfer sind in den Auseindersetzungen zwischen der alten Ordnung und den Umstürzlern dem Erboden gleichgemacht worden. Wir wurden mit einem Pferdegspann zu einem Holzhaus gebracht, um einer kleinen Zeremonie beizuwohnen. Die Ur-Ur-Enkelin eines bekannten Revolutionärs enthüllte eine Gedenktafel am Wohnhaus ihres Vorfahren. Der revolutionäre Umsturz der Zarenherrschaft ist ebensowenig vergessen, wie der der faschistische Überfall auf Russland. Das wurde auch zum Thema bei einer Party der Filmemacher. Man entschuldigte sich bei uns für die Opfer durch russische Soldaten. Als ich sagte, dass ich mich für die Beendigung der faschistischen Herrschaft bedanke, bedankte man sich mit einer langen russischen Umarmung.
Fußkette eines Gulags
Die Filmemacher sind eingeflogen worden aus den Regionen Russlands, aus Lateinamerika, Europa und Israel, und in der Jury saßen bedeutende Vertreter russischer Kultur, wie auch eine Kuratorin der Berlinale. Unser Beitrag für das Wettbewerbsprogramm war der Kurzfilm „Angst“, eine Hommage an den klassischen Horrorfilm. Die russischen Filmbeiträge waren geprägt von einer surrealistischen Erzählweise und einem tiefschwarzen Humor, gespickt mit Anspielungen auf die politischen Verhältnisse. Ein subversiver Umgang mit den Möglichkeiten des Mediums scheint für russische Filmemacher eine Selbstverständlichkeit zu sein. Sie haben sich oft arrangieren müssen mit schwierigen politischen Verhältnissen, und der Staat zeigt sich zunehmend von seiner repressiven Seite. Im letzten Jahr wurde ein Gesetz erlassen, dass die Benutzung von Flüchen, an denen die Alltagssprache reich ist, im Film und auf der Bühne unter Strafe stellt. Die Verurteilung des ukrainischen Filmregisseurs Oleg Senzow zu 20 Jahren Haft führte zu einer Protesterklärung der Festival-Jury, die an Schärfe nichts zu wünschen übrig ließ. Man war schockiert, dass in Rußland unter Putin rigoroser gegen Künstler vorgegangen wird als unter Stalin, bei dem die höchste Haftstrafe für einen Filmemacher zehn Jahre betrug.
Filmarchiv aus Sowjetzeiten
Ein deutscher Film über den Atomunfall im ukrainischen Tschernobyl bewegte das Publikum sehr. Eine alte Frau erklärte uns die besondere Betroffenheit der Bevölkerung. Kansk war ein Zentrum der militärischen Atomindustrie. In der dünn besiedelten Region wurden verschiedene Atomtests durchgeführt. Die Stadt war von vier Atomfabriken eingekreist. Dort kam es zu mindestens einem schweren Atomunfall, der die gesamte Region radioaktiv verstrahlte. Es kam zu zahlreichen Fehlgeburten und Erbschäden bei Mensch und Tier. Diese Geschichte von Kansk wurde nie aufgearbeitet und wurde von den russischen Medien verschwiegen und in der westlichen Presse nie wahrgenommen.
Zu der Jury des Festivals gehörte auch der bekannte russische Dichter German Lukomnikov, der mehrfach als Sieger aus dem nationalen Wettstreit russischer Poeten hervorging und als Nummer Zwei beim weltweiten Poetery Slam in Paris. Wir verständigten uns auf eine Zusammenarbeit, und er sprach in unser Mikrofon einen Text, an dessen Verfilmung wir uns vor Ort machten. Das Filmmaterial wird in Deutschland per Hand entwickelt und zu einer ruppig, rauen Collage aus Bildern und Worten zusammengefügt.
German Lukomnikov
In einer Open-Air-Performance zeigten wir unsere Sportfilm-Doppelprojektion „Sportskanonen“, die von dem Moskauer Klangkünstler Andrey Gurganov live vertont wurde.
Abschlussveranstaltung mit Stummfilm und klassischem Orchester
Das Filmfestival Kansk wurde täglich mit langen Reportagen des sibirischen Fernsehens begleitet, denn Sibirien ist nicht sehr bekannt für weltweite künstlerische Zusammenkünfte. Dabei gab es zu Sowjetzeiten spannende Filmproduktionen im nordasiatischen Teil des Landes. Das Filmarchiv von Kansk überreichte den Kieler Filmemachern eine Rolle 16mm-Film einer Produktion aus den 70er Jahren als Abschiedsgeschenk. Das Publikum wurde verabschiedet mit einem noch tieferen Griff in die Filmgeschichte: Ein Stummfilm über die russische Revolution, live begleitet vom Philharmonischen Orchester Nowosibirsk. (Karsten Weber, Filmgruppe Chaos)
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