Was wird aus dem Dokumentarfilm im Kino? – Zwei Diskussionsbeiträge
Der Dokumentarfilmer Arne Birkenstock ist Vorstandmitglied der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AGDOK) und für die Sektion Dokumentarfilm im Vorstand der Deutschen Filmakademie. 2014 gewann er mit „Beltracchi – Die Kunst der Fälschung“ den Deutschen Filmpreis für den besten Dokumentarfilm. In der Fachzeitschrift „Blickpunkt: Film“ (Nr. 18, 2. Mai 2016) hat er sich in der Rubrik „Wortmeldung“ unter dem Titel „Kino künftig ohne Dokumentarfilme?“ mit der angespannten Situation für den deutschen Dokumentarfilm im Kino auseinandergesetzt.
Im Vorfeld eines Panels, das sich am 21. Mai 2016 im Rahmen des Lola Festivals in Berlin mit demselben Thema beschäftigt, dokumentiert infomedia-sh.org im Folgenden den Artikel von Arne Birkenstock sowie eine Reaktion von Bernd-Günther Nahm darauf. Bernd-Günther Nahm war 25 Jahre lang Leiter der Filmwerkstatt Kiel der Kulturellen Filmförderung Schleswig-Holstein bzw. (in den letzten Jahren) der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein, die sich besonders der Förderung des Dokumentarfilms verschrieben hat. Er ist jetzt unter anderem als Hochschullehrer und als Coach für Dokumentarfilmer tätig.
Kino künftig ohne Dokumentarfilme?
Einsperren solle man jeden, der auch nur einen Euro Förderung in Dokumentarfilmproduktionen stecke – so äußerte sich jüngst der Betreiber einer Arthouse-Kinokette. Hat er da vielleicht recht? Unter den zum Deutschen Filmpreis 2016 eingereichten Dokumentarfilmen hat kein einziger die Referenzschwelle von 25.000 Zuschauern im Kino erreicht, viele blieben bei vier- oder gar dreistelligen Zahlen hängen. Auch die teureren, für ein größeres Publikum produzierten Filme bleiben unter den Erwartungen: Was 2011 Filmen wie „Taste the Waste“, „Gerhard Richter Painting“ und anderen noch gelang, haben jüngst nicht einmal Großproduktionen wie „Novitzki“, „10 Milliarden“, „Wacken 3D“ oder der Oscar-Sieger „Citizenfour“ erreicht: Die Marke von 100.000 Zuschauern zu knacken. Der Marktanteil deutscher Dokumentarfilme am Marktanteil uraufgeführter deutscher Filme ist von 6% im Jahre 2011 auf 2,7% in 2014 gesunken, wenn man das Ausnahmeprodukt „Die Mannschaft“ nicht mitzählt. Einen aktuellen Hoffnungsschimmer bietet nur German Krals „Letzter Tango“, der in der zweiten Woche schon mehr als 20.000 Zuschauer eingesammelt hat. Und doch: Gehört der Kino-Dokumentarfilm abgeschafft?
Die wenigsten Dokumentarfilme bekommen überhaupt noch die Zeit, im Kino zu laufen. Startspielzeiten wochentags um 16.30 Uhr sind keine Seltenheit, und nach ein oder zwei Wochen verschwinden viele Filme ganz von der Leinwand. Kinos passen sich ihrem Publikum an, und das Publikum geht eher zu den großen Eventfilmen in die Kinos und schaut andere Filme auf Ipad, TV und Laptop. Und so war laut AG Kino der erfolgreichste Arthouse-Film des vergangenen Jahres auch kein Arthouse-Film und schon gar kein Dokumentarfilm, sondern die Originalfassung von James Bond mit „Spectre“.
Auch im Dokumentarfilm sind es die kleinen Events mit Regisseur oder Protagonisten im Zusammenspiel mit themenaffinen Verbänden oder Initiativen, für die Zuschauer in Kinos und andere Orte mit Filmprojektionen kommen. Wer nun – wie im aktuellen Entwurf zur FFG-Novelle – Produzenten und Verleiher dafür abstrafen will, wenn sie in Ermangelung spielbereiter Kinos ihre Filme auch in Schulen, Universitäten, Kirchengemeinden usw. zeigen, indem diese zahlenden Zuschauer von Pauschalvermietungen nicht mehr bei den Referenzmitteln angerechnet werden, agiert jedenfalls ganz im Sinne des oben zitierten Kinobetreibers. Wer ihnen außerdem auferlegt, diese Filme, wenn sie nach wenigen Wochen gar nicht mehr zu relevanten Zeiten im Kino gespielt werden, für fünf oder sechs Monate dem Publikum vorzuenthalten, bevor sie in anderen Medien weiter ausgewertet werden dürfen, der schafft den Kino-Dokumentarfilm ab.
Das ist sehr schade, denn deutsche Dokumentarfilme sind in den vergangenen Jahren immer cineastischer und international wettbewerbsfähiger geworden, was nicht nur die Ankäufe durch Netflix und andere Plattformen zeigen, sondern auch ein wahrer Preisregen: in den vergangenen 10 Jahren waren deutsche Dokumentarfilme 7 mal für den Oscar und 9 mal für den Europäischen Filmpreis nominiert, sie gewannen einen Oscar, einen Golden Globe und 3 Europäische Filmpreise. Deutsche Dokumentarfilme liefen seit 2005 regelmäßig in Cannes, Berlin und Venedig, gewannen in dieser Zeit zweimal in Locarno, je einmal in Sundance und San Sebastian und insgesamt 19 mal auf den internationalen Wettbewerben der weltweit wichtigsten Dokumentarfilmfestivals in Toronto, Amsterdam, Sydney, Yamagata, Nyon und Leipzig.
An dieser Stelle vielleicht ein Satz zum Fernsehen: ARD und ZDF bleiben Partner für den Kino-Dokumentarfilm, aber die zuständigen und zumeist sehr engagierten Redakteure kämpfen auf verlorenem Posten. Das Quotendiktat hat den Bildungs- und Kulturauftrag längst verdrängt, mutlose Programmhierarchen setzen lieber auf Talk als auf Kino im Fernsehen: Es werden immer weniger Filme für immer weniger Geld auf immer späteren Sendeplätzen gezeigt. Das ist angesichts eines jährlich mit acht Milliarden Euro von der Gesellschaft finanzierten Systems schlichtweg absurd.
Aber auch die Filmemacher selbst haben ihren Anteil an der Misere: 2015 hatten insgesamt 137 (!) deutsche und ausländische Dokumentarfilme einen regulären Kinostart in deutschen Kinos – das sind viel zu viele, und nur ein Bruchteil dieser Filme hat thematisch und formal wirklich cineastische Qualitäten. Und: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Budgethöhe und Erfolg. Wer sich die seit 2006 vom DFFF geförderten Dokumentarfilme anschaut, stellt fest, dass bis auf eine Ausnahme nur Filme mit Budgets über 400.000 Euro nennenswerte Zuschauerzahlen und/oder Nominierungen zum Deutschen Filmpreis erreichen konnten. Viel Geld macht nicht unbedingt gute Filme, aber höhere Budgets sind natürlich ein Indikator für eine höhere Professionalität und Erfahrung bei Produzent und Team, für ein gut entwickeltes Treatment und ein dementsprechend höheres Vertrauen bei Finanzierungspartnern in die Projekte.
Was also tun, wenn man den Kino-Dokumentarfilm nun doch nicht abschaffen will? Es sollten mehr Geld und Energie in die Stoffentwicklung von Dokumentarfilmen gesteckt werden, und es sollte zum Normalfall werden, dass nicht jeder entwickelte Film auch produziert werden muss. Wir brauchen weniger Kino-Dokumentarfilme mit deutlich besserer Ausstattung. Zweitens müssen Förderer dringend auf die Veränderungen im Zuschauerverhalten und die damit einhergehenden veränderten Abspielstrategien der Filmtheater eingehen: Das Kino ist auch für erfolgreichere Dokumentarfilme zu einer Art Schaufenster mit sehr viel kürzerer Auswertungszeit geworden. Die erfolgreiche Kinoauswertung erfolgt in den allermeisten Fällen eher durch eine Abfolge von 20 oder 30 guten Events als mit regulärem und parallelem Kinoabspiel über viele Wochen. Den darüber hinaus zahlreich existierenden Menschen, die diese Filme gerne sehen möchten, sie aber im Kino nicht finden, müssen diese Filme auf anderen Wegen zur Verfügung gestellt werden. Und: das Abspiel von Dokumentarfilmen auf großer Leinwand auch außerhalb des Kinos muss nicht nur erlaubt sein, sondern auch mit Referenzpunkten belohnt werden, wenn Kinos diese Filme nicht mehr spielen.
Wir brauchen den Dokumentarfilm, aber der Dokumentarfilm braucht Auswertungsbedingungen, die ihn sichtbar und zugänglich machen. Der aktuelle Entwurf zur FFG-Novelle tut das Gegenteil, indem er zeitgemäße Auswertungen blockiert, den Zugang zu Filmen behindert und das Idealbild einer guten, alten Zeit zementiert, die zwar wirklich gut war, aber leider definitiv vorbei ist.
Das oben Gesagte gilt in weiten Teilen übrigens auch für den künstlerischen Spielfilm. Wer also jetzt auf veränderte Rezeptionsweisen mit der Abschaffung des Kino-Dokumentarfilms reagiert, wird in wenigen Jahren vermutlich dasselbe mit dem Arthouse-Spielfilm tun. (Arne Birkenstock)
Ist der Mainstream-Dokumentarfilm das Maß aller Dinge? Oder was wird aus dem Dokumentarfilm (nicht nur im Kino)?
Vielem, von dem, was Arne Birkenstock in seiner „Wortmeldung“ zur Situation des Kino-Dokumentarfilms beschreibt und schlussfolgert, kann ich inhaltlich zustimmen. Ich vermisse aber den Verweis auf die Machart und Qualität von „erfolgreichen“ Dokumentarfilmen und bin anderer Meinung was die Budgets angeht.
Im europäischen Umfeld sind die „gewinnbringenden“ Dokumentarfilme inzwischen leider häufig standardisierte Formate mit möglichst großen, publikumsbekannten Namen als Protagonisten oder in der Regie und mit viel Langeweile, weil durch ihre vereinheitlichte Machart, die alles beherrschende und berechenbare Spielfilmdramaturgie, vorhersehbar.
Und eben diese „auffälligen“ Filme, mit denen man sich gerne schmückt, egal ob bei Politik, Förderung oder ProduzentIn, werden von den Gremien und den Medien dann weiter gereicht für die Nominierungen bei Filmpreis oder Festivals. Die spannenden Projekte bleiben wegen fehlender Lobby in den überfüllten Abspielräumen meist konsequenterweise auf der Strecke. Denn wer arbeitet sich schon durch die vielen neuen Filme, und welche werden tatsächlich, z. B. von der Filmakademie, gesehen – auch von den eingereichten?
Und, da stimme ich Arne Birkenstock zu, der institutionelle Selbstbetrug, dass Filme in Deutschland ein Wirtschaftsgut sind und sich an der Kinokasse refinanzieren sollen, hat ja schon „kriminelle“ Ausmaße. Diese Annahme und „Fördervoraussetzung“ der FFA gilt für wie viel Prozent der realisierten Filme tatsächlich? Vermutlich will es keiner wissen, solange das System sie/ihn selbst bedient.
Warum bekennt man sich also nicht zu der eigentlichen Währung, den Zuschauern, und zählt sie da, wo sie auftreten? Die meisten der eigenständigen, ästhetisch oder inhaltlich aufwühlenden Dokumentarfilme sind mit extremer Selbstausbeutung, kleiner Förderung und immer seltener mit TV-Geldern entstanden. Sie sind im Grunde schon bezahlt, so tragisch das ist, denn auch eine Kinoauswertung bringt keine nennenswerten Einnahmen. Da ist es eher sinnvoll, wie von Birkenstock auch nahegelegt, dass eine themenbezogene Auswertung mit entsprechenden Initiativen oder Communities erfolgt, die in Person der begleitenden Regisseurin zu einem kleinen Event wird und zusätzliche Öffentlichkeit generieren kann – ob in Kino, Bildungseinrichtung oder Kulturzentrum. Ebenso sollte es ermöglicht werden bzw. Pflicht sein, wenn öffentliche Gelder in den Filmen stecken, dass diese Filme mit einem einfachen Gebührensystem a la iTunes online zugänglich sind für die wachsende Zahl der nicht nur jüngeren Menschen, die sich nicht mehr nach einem Kino- oder Fernsehzeitplan richten wollen.
Es bleibt doch die Frage, warum wir einen hohen Kulturstandard durch Beharren auf längst überholte und schon früher nicht gültige Annahmen riskieren und nicht bereit sind, diesen im Rahmen einer digitalisierten Gesellschaft zu verändern, zu aktualisieren. Das schließt ja nicht aus bzw. erfordert es ohnehin, dass verschiedene Verwertungssysteme im Sinne eines transmedialen Ansatzes nebeneinander existieren und den Zuschauer auf unterschiedliche Weise versuchen „einzufangen“.
Man riskiert allerdings, dass verschiedene ideologische wie ökonomische Nutznießer des alten, festgefahren Systems auf der Strecke bleiben. Ehrlich gesagt, das werden sie sowieso, jetzt könnte man diesen Prozess aber gestalten und nicht Bevormundern und Kulturfremden wie TTIP machtlos überlassen.
Erwähnen möchte ich zumindest an dieser Stelle noch die bezeichnende Situation, dass inzwischen aller Wahrscheinlichkeit nach mehr Menschen im Dokumentarfilmbereich ausbilden – in Hochschulen, Förderungen und Festivals – als direkt Filme produzieren, und dieses Geschäftsmodell scheint die „verlässlichere“ Perspektive im Dokumentarfilm zu sein.
Eine Bemerkung zum Schluss: Für mich gibt es kein spannenderes, offeneres und entwicklungsfähigeres Format als den Dokumentarfilm. Und den möchte ich auch zukünftig gern im Kino, im Kulturzentrum mit Diskussion und online sehen. (Bernd-Günther Nahm)
Die Deutsche Filmakademie lädt am 21. Mai 2016 zum LOLA FESTIVAL ins Haus Ungarn in der Karl-Liebknecht-Straße 9 in Berlin ein. Dort findet um 13 Uhr ein von Arne Birkenstock moderiertes Panel zur angespannten Situation des deutschen Dokumentarfilms statt. Er diskutiert dort mit dem Produzenten Thomas Kufus (Zero One), der Geschäftsführerin der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein Maria Köpf, dem Verleiher und Kinobetreiber Joachim Kühn (Real Fiction) und dem Kinobetreiber und ehemaligen Leiter des Dokumentarfilmfestivals in München, Christian Pfeil. Den inhaltlichen Ausgangspunkt bildet die oben dokumentierte „Wortmeldung“ Birkenstocks „Kino künftig ohne Dokumentarfilme?“ aus „Blickpunkt:Film“:
Anmeldung bei assistenz@deutsche-filmakademie.de, eine spontane Teilnahme ist auch möglich.
Samstag, 21. Mai 2016, 13 Uhr | Haus Ungarn | Berlin, Karl-Liebknecht-Str. 9
PROGRAMMÜBERBLICK vom 21. Mai 2016:
- 13 – 14.30 Uhr: Who Let The Doks Out!? – Wo findet der Dokumentarfilm noch statt?
- Ab 14 Uhr: CINEMATHON – Die Zukunft des Ortes Kino
- 15 – 16 Uhr: Triff die Regisseure – die nominierten Regisseure im Gespräch
- 16.30 – 17.30 Uhr: Es wird Wild – Nonchalance für deutsche Filme
- 18 – 19 Uhr: Jetzt wird’s Series – Kampf der Erzählformate
- 19 – 22 Uhr: BBQ & Pokalfinale angefeuert von PANTAFLIX (Für Gäste des Tagesprogramms)
- Ab 22 Uhr: LARS EIDINGER DJ-SET (Eintritt 5 €, frei für Tagesprogrammgäste und AG-DOK-Mitglieder)
Außerdem: Gemeinsam mit dem CineStar Kino in der KulturBrauerei und dem Freiluftkino Kreuzberg bringt die Filmakademie vom 20. bis 28. Mai 2016 noch einmal alle für den Deutschen Filmpreis nominierten Filme auf die große Leinwand.
Weitere Informationen zu der Veranstaltung finden sich unter www.lolafestival.de.
Textzusammenstellung: hsch