20. Filmfest Schleswig-Holstein 2016
Seefahrt schafft Not
„Tempête“ (Samuel Collardey, F 2015)
„Based on a true Story“ liest man in den letzten Jahren immer häufiger im Vorspann eines Films. Rund die Hälfte der dies- und letztjährig für den Film-Oscar nominierten Beiträge basierten auf realen Begebenheiten oder Personen. So auch bei „Tempête“. Jedoch erzählt der Film nicht nur eine tatsächliche Begebenheit, er lässt sie auch von den tatsächlichen Protagonisten nacherzählen. Lassen wir das zunächst zur Seite. Das Schöne an Samuel Collardeys drittem Langfilm („l’Apprenti“, 2008; „Comme un Lion“, 2012) ist, dass er auch ohne dieses Vorwissen ein bewegendes Familiendrama aus einer nicht untypischen Situation entwickelt.
Stürmische See, dunkle Wolken. Ein Fischtrawler schlingert mit ordentlicher Schräglage durch die Wellen. Doch die Arbeit an Bord geht weiter. Netze auswerfen, Netze einholen, den Kabeljau aus den Maschen zupfen, Genickschlag, ab in die Kühlbox. Knochenarbeit.
Dom (Dominique Leborne) ist Hochseefischer. Der 38-jährige muss immer wieder für drei Wochen auf See, um dann ein paar Tage Landurlaub zu haben. In der kurzen Zeit zwischen den Fahrten versucht der alleinerziehende Vater, die Zeit mit Tochter Mailys und Sohn Mattéo zu verbringen. Er balanciert auf einem schmalen Grat zwischen väterlicher Autoritätsperson und Spaß-Kumpel, der auch mal die Partynacht mit den Kids durchzecht. Dom macht das mit viel Gefühl und man versteht, warum die Kinder bei ihm und nicht bei der Mutter bleiben wollen.
So ist Dom auch dabei, als Mailys bei einer ärztlichen Untersuchung erfährt, dass sie schwanger ist. Das Ungeborene hat einen Herzfehler und deshalb praktisch keine Überlebenschance. Mailys entscheidet sich schweren Herzens für eine Abtreibung. Dom verspricht Mailys, bei dem Eingriff dabei zu sein. Sein Chef macht ihm allerdings einen Strich durch die Rechnung: Entweder er geht an Bord, oder er verliert seinen Job. Dom fährt den Törn, denn ohne seine Arbeit kann er die Kinder nicht versorgen. Mailys verzeiht ihm das gebrochene Versprechen nicht und zieht zur Mutter. Doms Versuche einer Wiedergutmachung weist sie schroff zurück.
Dom sieht als einzige Möglichkeit, seine Kinder bei sich zu behalten, in einer Selbstständigkeit als Fischer mit eigenem Boot und Tagesfahrten. So könnte er stetig für die Kinder da sein und sie finanziell versorgen. Die Navigationsprüfung besteht er, doch Dom fehlen die finanziellen Startmittel. Die Bank verlangt eine Bürgschaft, aber die Fischergenossenschaft lehnt ab. Ohne Job und Lohn kann Dom auch bald seinen Sohn nicht mehr versorgen. Auch Matteo zieht zur Mutter und ihrem finanzkräftigem Partner. Für Dom scheint es keinen Ausweg zu geben.
Laienschauspieler spielen überzeugend ihr eigenes Familiendrama (Dominique und Mailys Leborne – Foto: Samuel Collardey)
Der französische Kameramann, Autor und Regisseur Samuel Collardey erzählt dieses Familiendrama gradlinig und mit dem richtigen Maß an Sentiment. Sein Dom ist ein Stehaufmännchen, der nach dem Bruch mit der Tochter nicht aufgibt und einen neuen Weg für seine Familie sucht. Rückschläge werden schon mal mit einem Vollrausch gedämpft, aber danach geht es weiter im Programm. Trotz seiner Unverzagtheit landet Dom schließlich in einer Sackgasse. Seine einzige Option, die Kinder zu unterstützen, ist wieder anzuheuern.
Hauptdarsteller Dominique Leborne ist eine Entdeckung. Der Laiendarsteller ist nicht nur Schauspielnovize, er spielt sich selbst und seine eigene Geschichte. Das macht er mit einer überzeugenden Natürlichkeit, die prompt mit mehreren Schauspielpreisen belohnt wurde. Tatsächlich spielen auch seine beiden Kinder Mailys und Matteo sich selbst, ohne Scheu vor der Kamera. Vater und Kinder haben eine authentische Dynamik untereinander, die Collardey auch einzufangen vermag. Sicher ist eine solche Konstellation ein gewagtes Experiment, das aber mit einer herzerweichenden, nicht geskripteten Schlussszene belohnt wurde.
Alles auf Anfang, Dom ist wieder auf See. Doch diesmal liegt sie ruhig da, unter einem Streifen Abendrot am Horizont. (dakro)
„Tempête“, F 2015, 89 Min., Regie: Samuel Collardey; mit: Dominique Leborne, Mailys Leborne, Matteo Leborne; Produktion: Geko Films (Paris), Leonie Schmidtmer, Grégoire Debailly
„Tempête“ hat noch keinen deutschen Verleih. Anfragen bitte an Geko Films, leonie@gekofilms.com.