20. Filmfest Schleswig-Holstein 2016

Martyrium Migration

“Viacrucis Migrante – Kreuzweg der Migrant_innen” (Hauke Lorenz, D 2015)

“Mexiko am Mittelmeer” titelt die Pressemitteilung zu Hauke Lorenz’ Dokumentarfilm-Debüt “Viacrucis Migrante – Kreuzweg der Migrant_innen”. Solche Titelei verwundert zunächst, doch schon in den ersten Bildern wird die Parallele deutlich: Das Martyrium der Migration ist ein globales Phänomen, an der Südgrenze Mexikos ebenso wie an solcher der EU. Ganz aktuell sind die TV-Bilder vom griechisch-mazedonischen Grenzdorf Idomeni, wo Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen müssen, dennoch hoffen, nach Norden vordringen zu können. Ins “gelobte Land”, das sie mit allen, auch zunehmend gewalttätigen Mitteln abzuwehren versucht. Die Bilder von “Boat-People” vor Lampedusa sind dagegen fast schon wieder verblasst, denn “die medialen Bilder von Flüchtlingen stumpfen uns ab”, so Hauke Lorenz.
Sprung aus der Heimat in die Fremde – Flüchtling in “Viacrucis Migrante” (Fotos: Hauke Lorenz)
Er hat sich indes nicht abstumpfen lassen, sondern geht mit seinem Film mitten unter die Menschen, die sich aus Guatemala, Honduras oder El Salvador auf den beschwerlichen, mindestens 1.700 Kilometer langen “Kreuzweg” ins “gelobte Land” USA machen, aber oft schon an der Südgrenze des Transitlandes Mexiko scheitern. Ihre Fluchtgründe sind so vielfältig wie die von Syrern, Afghanen und Afrikanern, die sich unter Lebensgefahr nach Norden aufmachen, um dem noch lebensgefährlicheren Verbleib im Heimatland zu entfliehen: Instabile politische Verhältnisse, die dazu führen, dass mafiöse Banden von Bürgerkriegsgewinnlern die Bevölkerung bedrohen, malträtieren und versklaven. Solchem Martyrium kann mensch nur entrinnen, wenn er oder sie das Martyrium der Migration auf sich nimmt – um in ein erneutes zu gelangen: Schlepper schröpfen die Flüchtlinge, entführen sie, um Lösegeld von den zurückgebliebenen Familien zu erpressen, setzen sie sexualisierter Gewalt aus, peinigen sie wie die Peiniger, vor denen die Menschen fliehen. Und dann sind da noch die mexikanischen Polizeigewalten, die ihnen nicht minder ans Leben, sie abschieben wollen, zurück in ihr Martyrium in den Heimatländern. Doch die hoffnungslos Hoffnungsvollen machen sich immer wieder erneut auf den Weg – es bleibt ihnen nichts anderes übrig.
“Transitmigration” nennt die ethnologische Forschung das Phänomen relativ gefühllos, Hauke Lorenz hat darüber seine Magisterarbeit geschrieben. Dazu hat er Feldforschungen in Süd-Mexiko angestellt, aber das genügte ihm nicht. Ihn bewegte das Problem nicht nur wissenschaftlich, sondern auch menschlich. Also machte er sich als “Rucksackfilmemacher” plus Kameramann Juan Carlos Martinez Christancho auf ins mexikanische Grenzstädtchen Tenosique. Dort gibt es das von der katholischen Kirche (Franziskaner) betriebene Auffanglager “La 72”, wo “durchreisende” Flüchtlinge aus Mittelamerika für ein paar Tage und manchmal auch Wochen Schutz, Herberge und medizinische Betreuung finden. Asyl vor den Zugriffen der mexikanischen Migrationspolizei, die im Bunde mit den und als Söldner der USA die Flüchtlinge, bevor sie die USA erreichen können, von deren Grenzen fern halten sollen – weitere aktuelle Parallele zu Europa und seiner so genannten “Flüchtlingskrise”.
Im Lager “La 72” erzählten dem Filmemacher, der seinen Film als logische Fortsetzung seiner ethnologischen Feldforschungen zur “Transitmigration” begreift, Verzweifelte ihre Fluchtgeschichten. Lorenz (der zuweilen selbst die Kamera führte) und sein Kameramann kommen dabei unglaublich nahe an die Schicksale heran. Sie dokumentieren, lassen den Betrachter dabei aber auch mitfühlen. Eine Doku-Ästhetik, die TV-Journalisten oft vermissen lassen, weil sie sich aus einem vermeintlichen journalistischen Kodex des “unvoreingenommenen Betrachtens” nicht berühren lassen.
(v.l.n.r.) Alberto, Noé und José in der (halbwegs) sicheren Herberge
So ergreift Lorenz Partei für die martyrisch Migrierenden, ohne dass er sich mit ihnen so gemein macht, dass es platte Parteinahme wäre. Vielmehr beobachtet er und verhehlt doch nicht das Mitgefühl. Etwa für die Transsexuelle, die in ihrer Heimat für ihren Lebensentwurf an Leib und Leben bedroht wurde. Ein wunderbarer Moment, wenn ihr Bruder sie_ihn als “meine liebe Schwester” bezeichnet.
Wie die Schrifttafeln am Ende verzeichnen, hat sich eben dieses Geschwisterpaar auf der Flucht verloren. Der eine sprang auf den Güterzug auf, der einmal die Woche durch Tenosique gen Norden fährt, die andere nicht. A propos Schrifttafeln über die Fluchtverläufe nach dem Film: Hätte man sich die nicht am Anfang, wo unvermittelt eine Prozession von Kreuzträgern am Karfreitag durch Tenosique zieht, um für die Flüchtlinge und gegen die Repression der mexikanischen Polizei zu demonstrieren, zur Erklärung des “Settings” gewünscht? Nein! Dass Hauke Lorenz uns Betrachter zu Beginn mitten da hinein wirft, zeugt von einer Regie, die uns von Anfang an mitfühlen und -leiden lässt, uns mitten in eine Situation der Verzweiflung und Verlorenheit wirft, die Jesus von Nazareth auf seinem Kreuzweg empfunden haben mag – als Flüchtling aus ihm feindlicher Fremde ins “gelobte Land”. (jm)
Der Kreuzweg als Hoffnung – Migrant Carlos trägt das selbst gezimmerte Kreuz
“Viacrucis Migrante – Kreuzweg der Migrant_innen”, D 2015, 60 Min. (Spanisch mit dt. UT); Buch/Regie: Hauke Lorenz; Kamera: Juan Carlos Martinez Christancho, Hauke Lorenz; Produktion: Hauke Lorenz, TIDE – Hamburger Community-Sender und Ausbildungskanal; Förderung: Brot für die Welt, Missionszentrale der Franziskaner, MISEREOR, Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein (FFHSH), Crowdfunding-Kampagne. Infos zum Film und Trailer: www.viacrucismigrante.com.
Kino-Termine:
Filmfest Schleswig-Holstein (Kiel, Pumpe, Haßstr. 22):
  • Do, 17.3.2016, 19 Uhr: Eröffnungsfilm, Premiere
  • So, 20.3.2016, 15 Uhr (KoKi)
Abaton-Kino Hamburg:
  • Fr, 25.3.2016, 11 Uhr: Hamburg-Premiere
  • Di, 5.4.2016, 18 Uhr
  • Di, 12.4.2016, 10.30 Uhr: Schulvorstellung
  • Di, 19.4.2016, 18 Uhr
  • Di, 19.4.2016, 15 Uhr
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