66. Int. Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2016

Berlinale Classics: Sechs Premieren digitaler Restaurierungen und Rekonstruktionen

Seit 2013 hat die Retrospektive durch die Untersparte „Berlinale Classics“ ein thematisch unabhängiges Forum für (Erst-) Aufführungen von restaurierten oder rekonstruierten Filmen geschaffen, überwiegend in digitaler Projektion. Die Kategorie „Klassiker“ trifft häufig zu, doch es liegt in der Natur der Filmrestaurierung, dass auch unbekannte oder verloren geglaubte Filme nach Jahrzehnten überhaupt wieder einem Publikum zugänglich gemacht werden und deren Einordnung in die Filmgeschichte ermöglicht wird.
Die Träger der Restaurierungen sind Stiftungen mit dem Auftrag zum Erhalt der Filmgeschichte sowie Filmstudios, die ihren Back-Katalog digital sichern und auswerten wollen. Im Idealfall überlagern sich kommerzielles und historisches Interesse. So restauriert das japanische Studio Shochiku bereits seit Jahren die Klassiker ihres international renommierten Regisseurs Yazujiro Ozu und lässt sich bei der Auswahl der zu restaurierenden Filme vom Japan National Film Centre sowie bei der eigentlichen Restaurierung von ehemaligen Mitarbeitern Ozus beraten. Mit „Bakushu“ (JAP 1951) wurde dieses Jahr ein weiterer Film aus den 50er Jahren gezeigt, Ozus Werkphase mit dem höchsten Bekanntheitsgrad. „Bakushu“ ist u.a. mit den langjährigen Ozu-Darstellern Setsuko Hara und Chishu Ryu besetzt. Ozu untersucht auch in „Weizenherbst“ (engl. Titel „Early Summer“) eine typische kleinbürgerliche Stadt-Familie, in der sich die moralischen und rituellen Traditionen der japanischen Nachkriegsmoderne anpassen (müssen). Die Heldin dieser Erzählung ist Noriku, mit 28 Jahren noch unverheiratete Tochter des Hauses, die sich aber nicht dem üblichen Vorgaben der Bräutigamswahl unterwirft und ihren eigenen Weg zwischen Tradition und Selbstbestimmung geht. Eine Paraderolle für Setsuka Hara, Ozus Muse seiner späten Schaffensphase, die im vergangenen Jahr mit 95 Jahren verstarb. Nach Ozus Tod Anfang der 60er Jahre hat sie übrigens nie wieder einen Film gedreht.
Familienporträt aus „Bakushu“ (Copyright: 1951/2016 Shochiku Co., Ltd.)
Die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung hat mit Unterstützung von Bertelsmann sowie mit Mitteln aus der Digitalisierungsoffensive der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und vom Förderverein „Freunde und Förderer des deutschen Filmerbes e. V.“ Fritz Langs „Der müde Tod“ (D 1921) restauriert, und arte/ZDF haben eine neue Filmmusik komponieren lassen. Zu Beginn der Berlinale wurde „Der müde Tod“ live begleitet vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) im Friedrichstadtpalast aufgeführt (und wenige Tage später auf arte in HD ausgestrahlt). Der Freiburger Komponist Cornelius Schwehr umgeht in seiner Filmmusik die typischen Stummfilm-Stilmittel und vermeidet gleichzeitig eine störende Vordergründigkeit. Ob Langs Symbiose von romantischer Gruselfabel und auf Schaueffekt zielende Abenteuerposse nun eine dringende Wahl noch zur Restaurierung stehender Filme war, sei dahingestellt. Die Restaurierung basiert hauptsächlich auf einem 35mm-Schwarzweiß-Duplikat-Negativ des Museum of Modern Art. Eine gut gesicherte Kopie also. Tatsächlich drängt aber die Zeit, zahlreiche vor der definitiven Auflösung stehende Filmarchive in Deutschland zu retten. Auf Nitrozellulose basierende (Film-) Materialien (kurz: Nitrofilm) sind äußerst brandgefährlich, die Mittel für eine entsprechende Aufbewahrung oder Digitalisierung fehlen. Dies führt schlicht zur Vernichtung von Filmmaterial (und damit Filmgeschichte) aufgrund mangelnder Alternativen (siehe dazu den Kommentar von Tabea Rößner).
Bernhard Goetzke und Lil Dagover in „Der müde Tod“ (Quelle: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden)
Mit Heiner Carows 1968 abgedrehtem und noch vor seiner Fertigstellung verbotenem „Die Russen kommen“ hat die DEFA in Zusammenarbeit mit dem Bundes-Filmarchiv eine 1987 begonnene Rekonstruktion mit Hilfe digitaler Verfahren zu Ende geführt. Vom Original-Negativ waren nur noch kleine Teile vorhanden, die restaurierte Fassung wurde aus sehr unterschiedlichen Quellen zusammengestellt. Für das Verbot war die biografisch motivierte Erzählperspektive eines nazi-ideologisch verblendeten Sechzehnjährigen, der den Zusammenbruch des Regimes am Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt, Grund genug.
Gert Krause-Melzer in „Die Russen kommen“ (Copyright: DEFA-Stiftung/Jürgen Brauer)
Aus ähnlichen, aber ideologisch umgekehrten Gründen kam James Whales Adaption des Erich Maria Remarque-Romans „Der Weg zurück“ (1931, engl. Titel: „The Road Back“) nicht in der vom Regisseur intendierten Fassung in die Kinos. Die Nazis bekamen Wind von der Verfilmung der Fortsetzung von Remarques internationalem Bestseller „Im Westen nichts Neues“ (1929) und übten auf das Hollywood-Studio Universal politischen und finanziellen Druck aus. Der Film wurde deshalb mit teilweise neu gedrehten Szenen stark verändert und kam 1939 als „revitalized Version“ in die Filmtheater. Die Originalfassung galt als verloren, konnte aber jüngst durch einen glücklichen Fund durch Martin Scorseses Film Foundation rekonstruiert und restauriert werden. Auf der Berlinale fand die Weltpremiere statt. Eine ausführliche Beschreibung des Films und seiner Geschichte findet sich im gesonderten Artikel zu „The Road Back“.
„The Road Back“ – Grabenkrieg (Quelle: NBC Universal Archives & Collections, Copyright: Universal Pictures)
Eine vom Sony Pictures finanzierte restaurierte Fassung des Alkoholiker- und Boxer-Dramas „Fat City“ von John Huston aus dem Jahre 1972 feierte seine internationale Premiere auf der Berlinale. Der Film und sein Regisseur gehören zwar nicht zum bekannten Kanon des New Hollywood, sein Kameramann Conrad Hall sehr wohl. Unterstützt von Halls exakten Kadern mit warmen Farbtönen liefern insbesondere Stacy Keach und die fantastische Susan Tyrell glaubwürdige Alkoholikerportraits ab, ohne auf die Tränendrüse zu drücken. Tyrell wurde mit einer Oscar-Nominierung belohnt. Der Film ist getragen vom Geiste New Hollywoods, er verweigert sich der typischen Hollywood-Erzählweise, lässt den Ausgang der Geschichte offen und konzentriert sich auf das Innenleben seiner Protagonisten. Für Huston bedeutete der Film nach mehreren kommerziellen Misserfolgen ein Comeback. Seine Vorlieben für gebrochene Helden fluchtete mit der Vorliebe des New-Hollywood-Kinos mit authentischen dramaturgischen Szenarien. Eine wunderbare Neuentdeckung.
Stacy Keach in „Fat City“ (Copyright: Columbia Pictures)
Ebenso wunderbar ist das Regie-Debut des taiwanesischen Regisseurs Hou Hsiao-hsien Ni Luo He Nu Er“ („Daughter of the Nile“) aus dem Jahr 1987, das als restaurierte Fassung auf der Berlinale seine Weltpremiere feierte. Das Taiwan Film Institute zeichnet für die digitale Restaurierung des Original-35mm-Negativs im 4K-DCP-Format (Digital Cinema Packages) verantwortlich. Aus der Perspektive der ältesten Tochter einer Drei-Generationen-Familie in Taipeh erzählt Hsiao-hsien mit außergewöhnlichem Gespür für Atmosphäre und Zwischentöne vom Auseinanderdriften von Tradition und Moderne, den Versuchungen und Enttäuschungen des Turbokapitalismus und der Last, die die damals adoleszierende Generation daran zu tragen hat. Der Familienzusammenhalt und sein moralisches Gerüst sind fragil geworden. Bricht auch nur ein Mitglied weg, ist die Gefahr des sozialen Absturzes unmittelbar. Nach dem Tod des älteren Bruders muss die Heldin des Filmes hilflos mitansehen, wie der jüngere Bruder in einen Bandenkrieg hineingezogen und getötet wird.
Yang Lin in „Ni luo he nu er (Copyright: Taiwan Film Institute)
Aufführungen von filmhistorisch relevanten Werken wie im Rahmen der Berlinale Classics sind eine leider viel zu seltene Gelegenheit, die jüngsten internationalen Restaurierungen in Augenschein zu nehmen. Eigentlich sollte insbesondere das DCP-Format ja eine Distribution und damit Verfügbarkeit erleichtern. Man würde sich häufigere und regional gestreute Programme wünschen. Vielleicht eine offene Aufgabe, Aufführungstermine und Orte besser sichtbar zu machen. (dakro)
  • Bakushu (Weizenherbst), Yasujiro Ozu, Japan 1951 (digital restaurierte Fassung im Vorführformat 4K DCP)
  • Fat City, John Huston, USA 1972 (digital restaurierte Fassung im Vorführformat 4K DCP)
  • Der müde Tod, Fritz Lang, Deutschland 1921 (digital restaurierte Fassung im Vorführformat 2K DCP)
  • Ni Luo He Nu Er (Daughter of the Nile), Hou Hsiao-hsien, Taiwan 1987 (digital restaurierte Fassung im Vorführformat 4K DCP)
  • The Road Back, James Whale, USA 1937 (restaurierte Fassung im Vorführformat 35mm)
  • Die Russen kommen, Heiner Carow, DDR 1968/1987 (digital restaurierte Fassung im Vorführformat 2K DCP)
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