57. Nordische Filmtage Lübeck 2015:

Familientragödie

„Familie haben“ (D 2015, Jonas Rothlaender)

Jonas Rothlaender macht es niemandem leicht, nicht den Personen in seinem Dokumentarfilm „Familie haben“, also auch nicht sich selbst, aber auch nicht dem Zuschauer, der Zeuge dieser in großen Teilen schonungslosen „Familienaufstellung“ und filmischen Eigentherapie wird. In vielen Gesprächen, Erinnerungen und Reflexionen wird die Tragödie einer Familie entworfen, die der Autor dieses Films zu durchbrechen versucht. Das Tragische dieser Geschichte ist, dass alle Hauptpersonen Opfer und Täter zu gleich sind. Kennzeichnende Ingredienzien dieser überaus gestörten Verhältnisse sind Egozentrik, Uneinsichtigkeit und ein bisweilen erschreckender Mangel an Empathie. Letzten Endes macht jeder auf irgendeine Weise selbst das, was er dem anderen vorwirft. Verletzt erwarten die Protagonisten Einsicht und Entschuldigung vom Gegenüber, sind jedoch kaum in der Lage, die eigenen Fehler zu erkennen. Selbst der über weite Strecken doch sehr einfühlsame Regisseur kann sich gegen Ende des Films nicht davon freimachen, als er, man sieht es mit Unbehagen, den fast schon sterbenden Großvater, der sich unter Schmerzen stöhnend im Bett windet, fast schonungslos filmt und damit ethische Grenzen zu überschreiten droht.
Jonas Rothlaender erzählt im Grunde genommen drei Geschichten seiner eigenen Familie, Geschichten über Verwundungen und Enttäuschungen, die alle miteinander verquickt und deshalb in der filmischen Aufarbeitungen auch nur schwer von einander zu trennen sind. Da ist zum einen sein Großvater Günther, ein Egoshooter im übertragenen Sinne wie er im Buche steht. In seiner selbstgerechten Fixierung auf die eigene Person und seine risikoreichen Finanzgeschäfte hat er jahrzehntelang große Geldbeträge von Familienmitgliedern und anderen veruntreut und wäre wohl schon lange im Gefängnis gelandet, wenn es sich nicht bei den durchgebrachten Millionen zumeist um Schwarzgeld gehandelt hätte. Ehemals ein mittelständiger Unternehmer – der Film erzählt wenig darüber – ist er schon seit etlichen Jahren in börsliche Transaktionen verstrickt und jagt selbst als verarmter Bewohner eines Züricher Altersheims immer noch dem Phantom vom großen Profit hinterher, ist geradezu besessen von dem Gedanken, seine Schuld finanziell doch noch wieder gut machen zu können.
Vater und Tochter unversöhnt (Fotos: Jonas Rothlaender)
Opfer seiner dubiosen Finanzspekulationen ist nicht zuletzt auch seine geschiedene, erste Ehefrau Anne Gebler, Jonas’ Großmutter. Sie verlor durch Günther ein kleines Vermögen und lebte die letzten Lebensjahre von Sozialhilfe und der Unterstützung ihrer Freunde. Immer wieder streut der Film Zitate aus klagenden Briefen und Tagebuchnotizen von ihr ein, so dass man Mitleid mit ihr als Opfer zu entwickeln beginnt. Aber Anne ist, wie sich im Laufe der 130 Filmminuten zeigt, nicht nur Geschädigte. Und damit kommen wir zu den Verwundungen ihrer Tochter Bettina, Jonas’ Mutter. Diese hat schon als Kind unter mangelnder Zugewandtheit und Zutrauen ihrer Mutter gelitten und buhlt insgeheim immer noch – wider besseren Wissens – um die Anerkennung ihres greisen Vaters, der sich eher einen Sohn gewünscht hatte, sich wenig in ihrer Kindheit um sie gekümmert hat, und später rücksichtlos versucht, sie für seine finanziellen Manöver einzuspannen.
Aus dem Altersheim: Günthers Finanzgeschäfte
Fast klassisch tragisch mutet es nun an – und das ist die dritte Geschichte -, wenn man im Laufe des Films erfährt, wie Bettina ihre verkorkste Erziehung an die eigenen Kinder weitergegeben hat, ihre Belange vor die ihrer Kinder gestellt hat. Das hat Folgen bis in die Gegenwart. So wird der Zuschauer Zeuge, wie ein trauriger Bruder Jonas’ dem Älteren verstört von seinem Rückzugsmanöver aus der schon geplanten Hochzeit beichtet und dabei seine seelischen Verwundungen offenlegt, die im mangelnden eigenen Zutrauen gipfeln. Auch Jonas Rothlaender spricht seine eigenen Beziehungsdefizite an. Besonders erschütternd auch, dass Bettina selbst in den letzten Tagen ihres Vaters immer noch auf ein persönliches Eingeständnis seiner Fehler und offene Reue hofft, anstatt zu erkennen, dass ihr Vater auf seine Weise, mit dem ihm eigenen materialistischen Denken, dem er nun mal verhaftet ist, eine Art von Wiedergutmachung anstrebt. Wie kann sie erwarten, dass er jetzt das vollbringt, zu dem er ein ganzes Leben lang nicht im Stande war, ist man geneigt zu fragen. Vergebung ist ihr dann auch ein gutes halbes Jahr nach seinem Tode nicht möglich. Die in einen Karton verpackte Urne mit Günthers Asche landet unter dem Waschbecken einer Abstellkammer (einem hoffentlich nur vorläufigen Platz). So haftet dem versucht optimistischen, finalen Ausblick von Jonas Rothländer, es anders und damit besser machen zu wollen, ein Moment der Vergeblichkeit und Trauer an.
Eine Fassade: Familienglück
Man hat Rothlaender und seinem Film bisweilen vorgeworfen, er beute seine Personen aus und würde ihr Fehlverhalten schonungslos zur Schau stellen, doch versucht er „nur“, drastisch offen und ehrlich Rechenschaft über ein verfahrenes Familiendrama zu leisten. Die Frage, ob „sich die immer gleichen familiären Konflikte von Generation zu Generation weiter“ vererben (Katalogtext der Nordischen Filmtage Lübeck 2015), muss letztlich unbeantwortet bleiben. Allein, wie sie hier gestellt wird, macht den Film zu einem außergewöhnlichen. (Helmut Schulzeck)
„Familie haben“, D 2015, 130 Min., HD 16:9. Buch, Regie, Kamera: Jonas Rothlaender, Schnitt: Dietmar Kraus, Produktion: Jonas Rothlaender und DFFB. Gefördert aus Mitteln der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein GmbH (FFHSH).
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