(Filmgruppe) Chaos in Weißrussland

In Minsk konnten wir, die Filmgruppe Chaos, alte Freunde wiedersehen. In Weißrussland hatten wir Seelenverwandte gefunden, Verrückte, denen das Bewegte Bild Lebenselixier ist, das hilft, unter widrigen Verhältnissen zu bestehen und seinen Geist nicht den herrschenden Zuständen zu unterwerfen. Wir waren 2009 und 2010 dort. 2013 und 2014 haben wir uns als „Fernjury“ am Cinema Pertpetuum Mobile Filmfest beteiligt und Filme bewertet, die wir uns online ansahen.
Zu unserem 40-jährigen Jubiläum hat uns das Kultusministerium Schleswig-Holstein mit einem Zuschuss den Festivalbesuch in Minsk ermöglicht. Wir waren 10 Tage vor Ort, um Filme zu sichten, uns an Diskussionen zu beteiligen und mit der Kamera durch die Stadt zu streifen, auf den Spuren des als Kennedy Attentäter bekannt gewordenen Lee Harvey Oswald.
Weißrussland gilt als letzte Diktatur Europas, und wir hatten miterlebt, wie der KGB unsere Gastgeber bei unseren letzten Besuchen anrief und sich nach uns erkundigte, wie Veranstaltungsorte geschlossen und Genehmigungen für Film-Screenings verweigert wurden. Aber dieses repressive System produziert scheinbar weniger duckmäuserische Untertanen, denn gewitzte Schwejks, die sich ein flexibles und subversives Verhalten angeeignet haben, das sich auch unter schwierigen Umständen durchsetzt.
Hier filmt man zuweilen noch auf Super8 – längst abgelaufene Filmkassetten aus Weißrussland (Foto: Karsten Weber)
Die Initiative „Kinaklub“ hat sich nach langjährigen Katz-und-Maus-Spielen mit den Behörden in die offizielle Welt der Kultur gewagt und mit dem „Cinema Perpetuum Mobile Filmfest“ seit 2012 ein offizielles Filmfestival etabliert. Die basisdemokratische Initiative hat Fürsprecher innerhalb des Systems gefunden. Wir bekamen das zu spüren, als die Botschaft in Berlin uns die Visagebühren wegen der Teilnahme an einer Kulturveranstaltung erließ.
Die diesjährigen Veranstaltungsorte reichten von einem Musikclub über die Kunsthochschule, dem PEN Club bis hin zum Filmmuseum. Man war nun im Netz, auf Plakatwänden und in den Programmagazinen der Stadt sichtbar. Die Filme kamen aus aller Welt, und aus weit über 1.000 Einsendungen wurden die Programme zusammengestellt. Es gab Filmpräsentationen mit Party und Liveband, kleine Spezialprogramme und welche mit zugkräftigen Titeln wie „Trash & Zen“, stets mit Hintergrundinfos und Diskussion.
Wir gehörten zu der internationalen Jury des Festivals. Andere waren aus Moskau, aus Österreich und der Schweiz angereist. Wir konnten es kaum fassen, dass selbst eine zweistündige Vortrags- und Diskussionsveranstaltung ohne Filme mit dem Titel „Meeting Filmgruppe Chaos“ den Saal füllte. Das Publikum geriet förmlich aus dem Häuschen bei Anekdoten der norddeutschen Filmer, als sie von ihren Erlebnissen als Teenager berichteten, wie sie für ihre Werke ein Publikum in der 70er Jahren suchten, als es kaum alternative Strukturen für Kultur jenseits des Mainstreams gab. Man freute sich über die Geschichten voller Desaster und komischer Wendungen und die Beschreibungen brachialer Experimentalfilmproduktionen, die vor Schmirgelpapier, Säure, dem Vergraben von Material oder der biologischen Zersetzung in einem Frischmilch-Ei-Gemisch nicht Halt machte. Derlei sorgte für manchen Lacher und viele Fragen aus dem Publikum.
Im Anschluss gab es unsere „Sportskanonen“-Performance. Die Collage aus 16mm Sportfilmmaterial in Doppelprojektion wurde von dem weißrussischen experimentellen Elektronikmusiker P-tsts-P an seinem „Kurzweil“-Keyboard live vertont. Diese Kombination scheint den Nerv des Publikums getroffen zu haben. Mit stehenden Ovationen war es eine der erfolgreichsten Veranstaltungen des Festivals.
Es war wohl auch die Kooperation West- und Osteuropäischer Künstler, die wie aus einem Guss wirkte, die das Publikum so berührte. Gleich nach dieser Performance kam ein aufgeregter ukrainischer Musikmanager, der uns am liebsten gleich mit in die Ukraine genommen hätte. Er war überzeugt, dass unsere Performance eine positive Energie in das von sozialen Problemen und Gewalt zerrüttete Land bringen könnte. Er versprach einen spannenden Soundtrack einer ukrainischen Jazzband und will sich nach einem geeigneten Rahmen für eine gemeinsame Veranstaltung umsehen. (Karsten Weber, Filmgruppe Chaos)
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