18. Filmfest Schleswig-Holstein 2014
Vom Rand her erzählt
Eindrücke vom Kurzfilmabend
Es ist eine alte Weisheit, die auch für das künstlerische Filmschaffen gilt: Innovationen kommen nie aus dem Zentrum einer Gesellschaft (oder eines Genres), sondern immer von den Rändern her. Schaut man auf den wie immer bestens besuchten und vom Koki-Leiter Eckhard Pabst gewohnt wortgewitzt moderierten Kurzfilmabend, gilt das auch für das Kurzfilmschaffen im – randständigen und daher umso innovationsfreudigeren – Filmland Schleswig-Holstein.
Den Umgang mit Filmmaterial kann man bei der Kieler Filmgruppe Chaos getrost als rabiat bezeichnen. Dem vorgefundenen Material (eine ganze Containerladung von „Filmmüll“ aus der Stadtbildstelle, der schon vor Jahren auf die Filmgruppe Chaos kam und nun nach und nach verarbeitet wird) rücken Karsten Weber & Co. ganz materiell auf den Leib. Die Emulsion eines Lehrfilmstreifens über Schwimmbewegungen haben sie „mit allerlei Säuren“ traktiert und dabei nicht zerstört, sondern das Bild gleichsam chemisch zu sich gebracht. Das Säurebad und nachträgliche Einfärbungen nebst einer kongenialen Filmmusik des Serben Igor Malesevic machen aus „Blauer Peter“ (D 2013, 3:00 Min.) eine zuckende Bilderflut, die in schönem Gegensatz zu den ruhigen Schwimmbewegungen steht und in der die Augen des Betrachters freudig ertrinken.
Christian Mertens ist fast jedes Jahr beim Filmfest mit einem Musikvideo vertreten. Auch „Unter freiem Himmel“ (D 2013, 3:50 Min.) nach einem Song von Wolfgang Müller erzählt wieder eine Geschichte, welche die Geschichte hinter ihr zeigt, indem sie sie nicht zeigen muss, sondern vom Rand her erzählt erahnen lässt. Ein auf den Hund gekommener Familienvater klaut sich ein Auto samt darin befindlicher frischer Garderobe, um seinen Sohn, der nichts mehr von ihm wissen will, nach Jahren zu besuchen. Denn dass, wie es im Song heißt, „etwas wirklich vorbei ist und nicht nur vorübergeht“, ist noch nicht ausgemacht. „Man muss sich verwandeln, um etwas zu verändern“, bringt Mertens die Essenz dieser Randgeschichte (und vielleicht allen Filmerzählens) im Filmgespräch auf den Punkt und zeigt in schlichtem Schwarzweiß diesen vorübergehenden Wandel des Protagonisten, der am Ende eine neue Zukunft zu ermöglichen scheint. Eine schöne Parabel auf die Hoffnung, dass sich alle Geschichte verändern lässt, wenn man sie nur anders erzählt.
„Am Rande“ der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen auch die Schicksale von Flüchtlingen, die im Akt letzter Verzweiflung und in kleinen Nussschalen das Mittelmeer zu überwinden versuchen, um in der sich zunehmend abschottenden EU Zuflucht zu finden. Die gleichnamige Kurzdoku von Pablo Narezo, Maya Connors und Yasmin Angel (D 2013, 17:00 Min.) erzählt den Fall der Cap Anamur nach. 2004 rettete das Schiff Boat-People, die aus dem Sudan geflüchtet waren, vor dem sicheren Ertrinken und wollte sie in Sizilien an Land bringen. Doch der Cap Anamur wurde das Einlaufen verweigert. Mehr noch: Kapitän Stefan Schmidt (heute Flüchtlingsbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein), der erste Offizier und der Vorsitzende des Komitees Cap Anamur wurden von den italienischen Behörden festgesetzt und wegen „Beihilfe zu illegaler Einreise in besonders schwerem Fall“ angeklagt, die Flüchtlinge sofort abgeschoben (z.T. mit Todesfolge). Kapitän Schmidt ließ seinerzeit seine Super-8-Kamera mitlaufen und erzählt nun im Interview diese Geschichte von der unmenschlichlichen Flüchtlingspolitik der EU. Der Film ergreift dagegen Partei, schafft eine Gegenöffentlichkeit, wo die etablierten Medien die Geschichte seinerzeit totschwiegen und das alltägliche Flüchtlingselend an der Südgrenze der EU heute auch nur in so spektakulären Fällen wie jüngst den Lampedusa-Flüchtlingen kurz erwähnen.
Das benachbarte AKW ist inzwischen stillgelegt, dennoch entvölkerte es wie ein Chemieunfall das Marschdorf Büttel, das heute nur noch 35 Einwohner zählt. Der Filmemacher Rainer Komers hat ein Faible für Landschaften, die randständig sind, Industriebrachen, wie er schon mit „Milltown, Montana“ beim 14. Filmfest S.-H. – Augenweide (2010) deutlich machte und einen der Kurzfilmpreise gewann. In „25572 Büttel“ (D 2012, 5:00 Min.) zeigt er wieder menschenleere Ruinen. Nur noch ein Kriegerdenkmal und die Musik aus einer Containersiedlung beweisen, dass hier einmal Menschen eine Heimat hatten. Nun regiert die Öde, wir sind am Rand. Ein Requiem auf eine Landschaft, die der Mensch sich selbst raubte, gefilmt in poetischen Standbildern, in denen nur der Wind weht. „Was da angebaut wird, ist mir fremd“, raunt dazu ein unterlegter Gedichttext von Ulrike Almut Sandig und kommentiert treffend das Stimmungsbild einer zur Fremde gewordenen ehemaligen Heimat.
Filmische Randnotizen heben auch Vergangenes, Vergessenes wieder ans Licht – wie in „Ein Sein im Moment“ (D 2013, 4:25 Min.) der Multimedia-Studenten an der Kieler FH Caro Palm und Lucia Dregger. Sie porträtieren die Textilgestalterin Nina Clausen, genauer: wie diese das alte Handwerk des Webens am Leben erhält und im Freilichtmuseum Molfsee Menschen nahebringt. „Menschen verlieren zunehmend den Bezug zu dem, was sie umgibt“, weiß sie und plädiert für eine neue Wertschätzung dessen, was zu unrecht an den Rand gedrängt und entfremdet ist: ein altes Handwerk, das dem Menschen eine Lebensgrundlage wie Kleidung schafft.
Altes mit neuem Leben, und zwar erzählerisch prallem, füllt auch Gerd Strufe mit seinem 123 Jahre alten Schlepper. Cathrin Paulsen, Benjamin Vay und Tobias Möckel, Medienstudenten an der FH Flensburg, porträtieren in „Gerds alter Schlepper“ (D 2012, 6:35 Min.) nicht nur den Schiffsveteranen, sondern auch dessen liebevollen Reataurator, dessen wortreiche Geschichten über „die unglaubliche Geschichte dieses ollen Hunds“ den Film fast sprengen. Am Kurzfilmabend begeistert solche Fabulierlust das Publikum, das darüber gerne auch 60 statt 6 Minuten gesehen hätte.
Typisch norddeutsch „charming“ ist schließlich auch der Animationsfilm „Wind“ (D 2013, 3:49 Min.) von Robert Löbel, der augenzwinkernd die Abhängigkeit der „Nordmänner und -frauen“ von diesem Unverzichtbaren ihres Klimats zeigt. Mal ganz ohne Blick auf Windenergie als Zukunftstechnologie der Energiewende: Wind ist noch zu allerlei anderem gut. Was man erst merkt, wenn die Windgötter an ihren Windmaschinen mal Pause machen … (jm)
(Weiterhin liefen beim Kurzfilmabend „Krugsterben“ und „Kantdada“. Siehe dazu eigene Besprechungen.)