18. Filmfest Schleswig-Holstein 2014
Zwischen den Heimaten
„Leben ohne Netz und doppelten Boden“ (Kay Gerdes, Jess Hansen, D 2011-13)
Ein schleswig-holsteinisches Dorf im Novembernebel. Hier sagen sich Hase und Igel Gutenacht, doch von einer Wiese am Dorfrand hört man zaghafte Zirkusmusik. Hereinspaziertheit in den Circus Hecker! Mit solcher ebenso idyllischer wie melancholischer Szene leiten Kay Gerdes und Jess Hansen ihre Beobachtung des wohl kleinsten Zirkus’ Deutschlands ein, den sie über eine Saison bei seiner Reise quer durch Norddeutschland begleiteten.
Typisch norddeutsch skurril sind die beiden Protagonisten ihrer Doku „Leben ohne Netz und doppelten Boden“: das Ehepaar Barbara und Harry Hecker, die in ihrem Zweipersonen-Zirkus seit 25 Jahren genau das verkörpern: das Leben in einer Zwischenwelt, die doch Heimat sein kann. Insofern steht der Film auch in der Reihe von Dokumentarfilmen aus Schleswig-Holstein, die sich schon seit einigen Jahren mit dem Thema „Heimat“ auseinandersetzen. Heimat wird hier quasi ex negativo definiert, als das ruhelose Schaustellerleben, das die beiden Zirkusenthusiasten dennoch nicht missn möchten – trotz aller Schwierigkeiten. „Wenn man erstmal ein paar Jahre auf Reisen war, kommt man nicht mehr davon los“, gesteht Harry Hecker, den es „immer wieder hinaustreibt, wenn die Vögel anfangen zu zwitschern“, sprich, wenn der Frühling kommt und es aus dem Winterlager wieder hinaus auf die Piste geht.
„Seid ihr wahnsinnig?“, sagten Freunde, so berichtet Barbara Hecker, als das Paar vor 25 Jahren die kleinbürgerliche Existenz aufgab, um zum Zirkus zu gehen und wenig später sogar einen eigenen zu gründen. Und ja, ein wenig verrückt muss man wohl sein, vermittelt auch der stumm bleibende Filmerzähler dem Zuschauer. Harry kann nichts umhauen. Ein ewiger Optimist, der am Anfang des Films bei der Ankunft im Winterlager resümmiert: „Die Saison war wirtschaftlich durchwachsen, aber alles ist heile und gesund geblieben.“ Was will man mehr? Seine Frau Barbara dagegen lässt schon mal durchblicken, dass sie des Gatten Sorglosigkeit nicht immer teilt. Schließlich ist sie für die Finanzen zuständig und muss auch schon mal eine Vorstellung absagen, wenn sich nur drei zahlende Zuschauer ins Zelt am Dorfrand verirren. „Die extreme Zirkusmacke wie ich hat Barbara nicht“, weiß Harry auch solche Bedenken vom Wohnzimmertisch im Wohnwagen zu wischen.
Zwischen den Welten in ihrer eigenen kleinen Zirkuswelt: Barabara und Harry Hecker (Foto: Kay Gerdes, Jess Hansen)
Nicht sonderlich abwechslungsreich ist die Saison, durch die die Kamera den Mini-Zirkus bis zum nächsten Winterlager begleitet. Norddeutsche Straßendörfer ähneln sich, „und manchmal, wenn ich morgens aufstehe, weiß ich nicht genau, wo ich bin“, sagt Harry. Die bunte Zirkuswelt wird hier als alltägliches schwieriges Geschäft entzaubert – oder umgekehrt: in den trüben norddeutschen Alltag bringt der unbeugsame Klein-Zirkus, das fahrende „gallische Dorf“, manchen zauberhaften Farbfleck.
Von dieser gegenseitigen Spannung lebt nicht nur der Circus Hecker, sondern auch der Film in seinem ruhigen, fast interesselosen Erzählfluss. Alles spricht hier für sich – auch wenn es wenig zu sagen hat. Eine Zwischenwelt so skurril und abseitig wie langweilige Normalität. Lässt man sich auf diese sonderbare Zwischenheimaterzählung ein, erscheinen die 74 Filmminuten als durchaus spannend und kurzweilig, zumal in der leicht ironischen Distanz, die das Zirkus- wie das Filmerpaar zu ihrem jeweiligen Unterfangen haben. (jm)
„Leben ohne Netz und doppelten Boden“, Deutschland 2011-13, 74 Min., Regie: Kay Gerdes, Jess Hansen, Kamera: Kay Gerdes, Ton: Jess Hansen, Schnitt: Kay Gerdes