Kant vom Kopf auf die Füße gestellt
“kantdada” (Kai Zimmer, D 2013)
Immanuel Kant ist aus seinem Königsberg, heute Kaliningrad, nie weggekommen. Manche meinen, dass solches Hinterwäldlertum für seine bis heute nachhaltig weltbewegende Philosophie nicht unerheblich war, weil erst die Verengung des Blicks dessen Weitung ermöglicht. Der Videokünstler Kai Zimmer drehte mit Förderung des Ministeriums für Justiz, Kultur und Europa des Landes Schleswig-Holstein in Kaliningrad seinen Experimentalfilm “kantdada”, der Kant buchstäblich vom Kopf auf die Füße stellt.
Auf die schöner Russinnen, die auf Highheels durch gegenwärtige Straßenniederungen wie damalige Geisteshöhen stöckeln. Dazu spricht im Off die Kaliningraderin Olga Suvorova Fragmente aus Kants Werken. Doch kein philosophisches Kolleg wird hier gehalten. Zimmer ließ Suvorova, die keine deutschen Sprachkentnisse hat, Kants Sätze skandieren und collagierte daraus auf der Tonspur ein Staccato Kantscher Begriffe. Solche Montage klingt zunächst wie ein dadaesker Nonsense-Text, den er manchmal synchron auf den Takt der durch Kaliningrad wandelnden Frauenbeine legt. Kants komplexe Sprache wird auf ihre lautmalerische Melodie zurückgeworfen, den gegenwärtigen Beat der damals elaborierten Aufklärungsprosa. In Fragmenten wie “Die Kunst / wird / bloß so / als ob / vollendet” stehen Kants Kopfgeburten auf den ebenso modernen wie modischen Beinen der Boulevards.
Auf Kants Sprachspuren: Olga Suvorova in “kantdada” (Foto: Kai Zimmer)
Prinzip Dada wie bei Daniil Charms, dessen zitierte Kürzest-Erzählung “Fall 19 – Begegnung” von einem, der ausgeht, “ein polnisches Weißbrot zu kaufen”, mit dem lapidaren Satz “Das ist eigentlich schon alles” endet. Dazu tragen zwei Männer sinnleer und doch sinnlich eine Tür ohne Rahmen durchs Filmbild. Wie in den meisten seiner früheren Experimentalfilme spielt Zimmer in “kantdada” mit der Lakonie des Dokumentarischen, nimmt die eigene Perspektive zurück, um sie umso deutlicher herein zu drehen. Er zoomt auf die Zehen und Gesichter einer heutigen Metropole, die Kant unbekannter war als die Welt, die sich ihm daraus erschloss. Woher nahm der bodenständige, aber im Geiste weltläufige Königsberger seinen Weitblick, den Zimmer auf die heute darin Wandernden fokussiert?
Zimmers 13-Minüter deutet bewusst nicht, nur indem er in der extremen Verdichtung und zugleich Verdünnung Mehrdeutiges collagiert. Der Geist wird in seiner “an sich” Unfassbarkeit Film, Foto-Impression, Szenerie. “Kosmos – Hoffnung – Liebe – Mut – Idee”, zählt Olga Kant’sche Kategorien auf, eilt darauf in zaubermädchenhaften Ballerinas wie eine vor Kants Wortgewalt Flüchtende vondannen. Und wir schauen und lauschen und sinnen und stottern ihr nach, mit Kants und Kais Augen: “Alles / was endlich ist / muss ein Ende haben” – nämlich Unendlichkeit. (jm)
“kantdada”, D 2013, 13 Min. Regie, Kamera, Schnitt: Kai Zimmer. Mit Olga Suvorova. Gefördert vom Ministerium für Justiz, Kultur und Europa des Landes Schleswig-Holstein.