55. Nordische Filmtage Lübeck 2013
Kritiksplitter zu Wettbewerbsfilmen
Drastisch, skurril, gewalttätig und komödiantisch kam der isländische Eröffnungsfilm der diesjährigen Nordischen Filmtage Lübeck daher. „Von Pferden und Menschen“ von Benedikt Erlingsson schildert in fünf miteinander verwobenen Episoden das besondere Verhältnis zwischen Mensch und Pferd auf Island. Tragische Komik prägt gleich die erste Geschichte, die nach der ersten Episode auch den weiteren Film mit seinem Fortgang grundiert. Kolbeinn (Ingvar E. Sigurdsson), ein in seiner ländlichen Knorrigkeit und Härte aufgetakelter Hagestolz, sattelt mit Geduld seine etwas spröde Stute und trabt, von der Nachbarschaft mit Ferngläsern interessiert begleitet, zu seiner Liebe Solveig. Schon das ist in seiner hinreißenden Komik ein Meisterstück des isländischen Humors. Es wirkt einfach sehr komisch und gerade zu lächerlich, wenn Kolbeinns kleine, gedrungene Schimmelstute einen solch starken Kerl tragen muss, der sein Gewicht slapstickhaft anmutend auf dem Pferderücken in kurzem Trippeltrab bis leichtem Galopp ausbalancieren muss. Doch der Film kann auch anders. Tragisch bis brutal wird es z.B., wenn Kolbeinn seine Stute erschießt, weil er sich bloßgestellt fühlt und sie „verunreint“ sieht. Wird sie doch während seines Rückritts – er sitzt auf der Stute – vom geilen schwarzen Hengst Solveigs besprungen.
„Von Menschen und Pferden“ – Mehr als peinlich für Kolbeinn. (Foto: NFL)
So swingt der Film wunderbar stimmig zwischen Komik und Tragik hin und her und liefert vor traumhafter isländischer Kulisse mit seinen filmischen Miniaturen eine intensive Liebeserklärung über den Einklang von Mensch und Natur.
„Ich bin Dein“, der Debütspielfilm von Iram Haq, einer in Norwegen gut bekannten Schauspielerin, verfolgt das komplizierte und schwierige Leben einer jungen pakistanischen Mutter der zweiten Immigranten-Generation in Norwegen. Die Protagonistin Mina (Amrita Archaria) sucht sich von den traditionellen, familiären Fesseln ihrer Herkunft zu befreien (die besonders von ihrer enervierenden Mutter immer wieder ins Spiel gebracht werden), gerät aber aufgrund ihrer erfolglosen Suche nach einer festen Liebesbeziehung immer mehr aus der Bahn, scheint schließlich sogar ihren Sohn an den Ex-Ehemann zu verlieren. Eine Geschichte einer verzweifelten Emanzipation, die am Ende scheitert. Der Film lässt den Zuschauer mitleiden. Man ahnt von vorne herein, dass es kein Happy End geben wird. Der vergeblich Suchenden bleibt bloß die einsame Nacht.
„Ich bin Dein“ – Mina versucht, eine Liebesbeziehung aufzubauen. (Foto: NFL)
Ebenso von Beginn hoffnungslos für die Hauptperson zeigt sich der neben „Ich bin Dein“ (ex aequo) zweite Preisträger des NDR-Filmpreises, „Der Nordwesten“ des dänischen Filmemachers Michael Noer. Der Film orientiert sich in der Grundkonstellation teilweise an Scorseses „Mean Streets“. Jugendliche Kleinkriminelle bewegen sich im fatalen Dunstkreis ihrer Bosse. Ähnlich wie bei „Mean Streets“ versucht der Held (Gustav Dyekjær Giese), hier ein junger Einbrecher, seinen jüngeren Bruder (Oscar Dyekjær Giese) immer wieder aus der Patsche zu helfen und scheitert schließlich daran. Der Film zeigt mit seinen semidokumentarisch anmutenden Bildern ein anderes als das Postkarten-Kopenhagen. Im Immigrantenviertel Nordvest eskaliert ein Bandenkrieg, der spannend und mit schnörkelloser Regie in Szene gesetzt wird.
„Der Nordwesten“ – Der Bandenkrieg eskaliert. (Foto: NFL)
In Søren Kragh-Jacobsens Psychodrama „In der Stunde des Luchses“ versucht eine Pastorin (Sofie GrÃ¥bøl), der traumatisieren Seele eines jungendlichen Schizophrenen auf die Spur zu kommen, der scheinbar ohne jeden Grund ein altes Ehepaar erschlagen hat und nun in einer psychiatrischen Haftanstalt einsitzt. Eine beklemmende Geschichte auch in ihrem Fortgang: In dieser Anstalt, versucht eine junge Psychologin (Signe Egholm-Olsen), die Patienten mit Haustieren zu therapieren – mit zweifelhaftem Erfolg. Die tödliche Aggression bleibt bei vielen latent, gefährdet ihre Umwelt und sie selbst, auch bei dem Protagonisten (Frederik Johansen) des Films. Die von der Pastorin schließlich aufgedeckte Vorgeschichte seines tödlichen Traumas liefert letztlich nur eine unzureichende Erklärung für sein Handeln. Der Film zeigt die Grenzen einer psychiatrischen Behandlung auf. Eine Genese des Protagonisten erschließt sich bei allen guten Ansätzen nur teilweise.
„In der Stunde des Luchses“ – traumatisiert … (Foto: NFL)
Den Publikumspreis gewann verdienter Maßen der estnische Spielfilm „Kertu“ von Ilmar Raag, eine packende Liebesgeschichte einer Außenseiterin auf der Insel Saaremaa. Kertu ist Fremden gegenüber äußerst scheu, verdingt sich als Postbotin und wird trotz ihres Alters (30) immer noch wie ein unmündiges Kind von ihrem aggressiv Besitz ergreifenden Vater dominiert. Man ahnt gleich die trübe Vorgeschichte, die im zweiten Teil des Filmes mit eindeutigen Andeutungen klar wird. Kertu verliebt sich in den heruntergekommenen, dennoch für die dörfliche Damenwelt attraktiven Trinker Villu und erobert ihn. Das Dorf deutet in diese Beziehung unter tatkräftiger Mithilfe des eifersüchtigen und gewalttätigen Vaters eine Vergewaltigung hinein. Als bei Kertu schließlich eine Schwangerschaft festgestellt wird, spitzt sich die schon dramatische Situation noch einmal zu.
„Kertu“ – Ein Paar gegen alle Widerstande. (Foto: NFL)
Wie die heftig eingeschüchterte Frau und ihr zu Unrecht stigmatisierter Freund sich letztendlich zu behaupten vermögen, ist in seiner Dramatik sehenswert und erleichternd. Der ergreifende Film erzählt ein glaubwürdiges „Märchen“ und profitiert dabei von seinen wunderbaren Schauspielern, allen voran Ursula Ratasepp (Kertu) und Mait Malmsten (Villu). (Helmut Schulzeck)