Hinreißende Lieder und ein bitteres Schicksal

„Patriotinnen“ (Irina Roerig, D 2012)

Am Anfang erkundet ein kleines, mit Kopftuch versehenes Mädchen ein große Ruine, läuft durch ein zerstörtes Treppenhaus, schmutzige Flure: Scherben, verrostetes Metall, Trümmerhaufen in einem halb verrotteten Gebäude, dazu die Saitenklänge der Gusli, eines alt-russischen Musikinstrumentes. Was es mit diesen Filmbildern auf sich haben mag, erschließt sich dem Betrachter des Films auch nach dessen Ende nur teilweise. Steht das Mädchen für die neugierige russische Bardin Elena Frolowa, die uns mit ihren großartigen Vertonungen der Texte der russischen Dichterin Marina Zwetajewa (1892-1941) und ihrem vollen, berauschenden Gesang ein wortmächtiges Vermächtnis einer der Großen der russischen Literatur nahe bringen möchte? Und verweisen die Trümmer auf das erschütternde Ende der Zwetajewa? Wie dem auch sei, Irina Roerig hat mit ihrem sehr sehenswerten Dokumentarfilm „Patriotinnen“ ein spannendes Stück Zeit- und Literaturgeschichte einfangen, dessen zwei Protagonistinnen bei uns im Westen leider nur wenigen bekannt sein dürften.
Aus dem Prolog des Films „Patriotinnen“
Die ersten 20 Minuten porträtiert der Film Elena Frolowa, die mit ihren packenden Liedern den Zuhörer und -seher mitzureißen vermag. Ein Dutzend ihrer Lieder grundieren und prägen den gesamten Film mit ihren Melodien, mit ihrem Inhalt (überwiegend auf Texten von Marina Zwetajewa beruhend) und Frolowas gesanglichem Können und Einfallsreichtum. Diese Musik ist schlicht gesagt: großartig.
Elena Frolowa
Elena Frolowa weiß offensichtlich wenig anzufangen mit der Hektik und Flüchtigkeit der russischen Moderne, die in Moskau den das Straßenbild bestimmenden, großstädtischen Kommerz prägt. Sie konstatiert die Unübersichtlichkeit und schwer zu durchschauende gesellschaftliche Situation im heutigen Russland, beklagt auch die Seelenlosigkeit der heutigen Pop-Musik, die die Medien dominiert. Frappierend der Kontrast, in dem sich Heutiges und Vergangenes bei Frolowa mischen. So sitzt sie am Küchentisch ihrer Wohnung in einer typischen „Wohnraummaschine“, in einem riesigen Block einer Moskauer Trabantenstadt, dessen Fenster den Blick auf weitere solcher Wohnungsmonster freigibt, und organisiert ihre Arbeit mit Handy und Laptop, die aus der Vergangenheit schöpft. Auf Konzerttouren durch halb Europa reisend scheint sie wenig Sinn für mögliche Ehe und eigene Kinder zu haben, hat sich ganz ihrer Kunst verschrieben, widmet sich ziemlich autonom z.B. ihrer Heldin Marina Zwetajewa, scheint aber auch der russischen Geschichte, besonderes in ihrer Religion und Mystik, nachzuforschen.
Marina Zwetajewa ist das Idol von Elena Frolowa. Zwetajewa ist für Frolowa nicht nur eine gute Dichterin, sondern in ihrer „heldenhaften Erscheinung“ „wichtigste“ Person, so etwas wie eine „Schamanin“, wie sie es nennt, die sie weit hat blicken lassen und sie mit ihrer Leidenschaft tief getroffen hat. Sie hat Frolowa mit ihren Dichtungen und ihrem unsteten, tragischen Leben zu rund 60 Liedern (Vertonungen) inspiriert. Zum Beispiel zu „Die Gefangene des Khan“, das den Mongolensturm im 13. Jahrhundert zum Inhalt hat, der weite Teile Russlands mit Tod und Verwüstung überzog. Neben gekonnten Filmbildern (Kamera: Axel Brandt) zitiert Roerig kurze Ausschnitte aus Tarkowskis „Andrj Rubljow“, die einen Eindruck der Brandschatzungen der tatarischen Reitertruppen vermitteln sollen. Doch wie so manches Mal in diesem Film sind, selbst in der deutschen Übersetzung, Zwetajewas Dichtung und Frolowas begeisternder Gesang stärker als die Bilder. Das Lied überflutet in seinen Stärken jegliches Illustrieren, das die angesteckte Fantasie des Zuhörers nur noch begleiten kann und hinter der Dramatik des Gesungenen zwangsläufig zurück bleiben muss.
Marina Zwetajewa
„Patriotinnen“ lässt uns im Folgenden das Schicksal Zwetajewas erfahren. Es ist das Leben einer Getriebenen, die in ihrer schon zwiespältigen Jugend noch die trügerische Geborgenheit der zaristrischen Aristokratie und Bourgeoisie kennengelernt hat und in der von Revolution bedrohten und schließlich niedergehenden Bohème der literarischen Salons Russlands eine Heimat fand. Der Film zitiert hier wie auch später meist aus Briefen der Dichterin und autobiografischen Schriften und versucht mit behutsam eingesetztem Reenactment, die Situationen zu bebildern bzw. zu begleiten. Eindrucksvoll, Zwetajewas Dichtung bestens angemessen, leiht Iris Berben den Texten und somit Zwetajewa eine Stimme. Auch die anderen Off-Sprecherinnen, Ursula Karusseit und Katharina Spiering, machen ihre Sache sehr gut.
Das Pariser Exil ab Mitte der 20er Jahre wird für Zwetajewa zu einer harten Prüfung. Sie kann nicht nach Russland zurück und wird trotz ihrer beiden Kinder und Ehemann zu einer Heimatlosen. „In Russland bin ich ein Dichter ohne Bücher und hier ein Dichter ohne Leser“, beklagt sie sich. Geistiges und materielles Elend werden zur ständigen Bedrohung. Briefe an Boris Pasternak und Rilke sprechen von Zwetajewas Situation, aber auch ihrer Einstellung und Wünschen. Es gelingt dem Film hier, Frowola als Interpretin der persönlichen Geschichte Zwetajewas glücklich zu etablieren.
Bestens auch der gelungene Übergang vom heutigen Paris mit Frolowa, die ihre Spurensuche vor Ort während eines Konzertaufenthalts betreiben kann, zurück in die russische Heimat, zu ihrer Mutter. Das Lied „Nicht hier, wo man hingehört“ beschreibt noch einmal eindringlich Zwetajewas Entwurzelung als Exilantin, führt mit atmosphärisch gelungenen Bildern von den menschenleeren Gassen des frühmorgendlich erwachenden Paris zu Mütterchen Russland, hinaus aufs Land. Mit Elena Frolowa kommen wir so zu ihrer Mutter Maja Stepanowna Frolowa. Diese hat, Ironie der Geschichte, als der Sowjetunion Nachtrauernde, eher atheistische Gesinnte, in einem religiösen Zentrum, in Zusla, ihr Zuhause gefunden. Als ehemalige Wissenschaftlerin steht sie der Religion und Spiritualität zugewandten Neugierde ihrer Tochter skeptisch gegenüber, hat eine materialistische, sozialistische Gesinnung und beklagt den heutigen Einfluss der Kirche, die jeden nur noch an sich selbst und sein Wohl bei Gott denken lasse. Eine schöne Volte im Film: Die Idealisierung des Kollektivs in der Erinnerung der Mutter gegen das in der Erinnerung an Zwetajewa geschilderte, auch exzentrische, Behaupten einer Individualität.
Gegen Schluss des Films gewinnt man den Eindruck, dass Elena Frolowa am harten Schicksal der Zwetajewa nachträglich mitleidet. Gedankenverloren scheint sie auf einer Flussschifffahrt dem harten Ende von Zwetajewa nach zu sinnieren. Nach der dem Schicksal ergebenen Rückkehr dieser in die Sowjetunion 1939 („Sie wusste, dass sie in den Untergang fährt“, meint Frolowa) wird sie ein Opfer des Stalinismus. In Paris war sie zum Schluss aufgrund der Verstrickungen ihres Mannes beim NKWD vollends bei den russischen Emigranten isoliert. In Russland erging es ihr nicht besser. So gut wie jeder Schreibmöglichkeit schon in Moskau beraubt, schließlich in die Tatarische Republik abgeschoben, erhängte sie sich 1941. „Als Künstler wird man erst nach dem Tod anerkannt“, meint Frolowa ganz unsarkastisch, eher nüchtern, „um in unserem Land Dichter zu werden, muss man überhaupt erst einmal sterben.“ (Helmut Schulzeck)
„Patriotinnen“, Deutschland 2012, 82 Min., Farbe, Buch und Regie: Irina Roerig, Kamera, Schnitt und Produktion: Axel Brandt, Musik: Elena Frolowa, Erzähler: Iris Berben, Ursula Karusseit, Katharina Spiering, Produktionsfirma: Axel Brandt Filmproduktion, Filmförderung: Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein GmbH (FFHSH)
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