63. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2013
Der Klebstoff der Armut
„Tough Bond“ (Austin Peck, Anneliese Vandenberg, USA 2012)
Eine Binsenweisheit: Die afrikanische Familie bedeutet alles auf dem „Schwarzen“ Kontinent. Ohne sie schafft der Einzelne wenig, überlebt meist nur sehr schlecht und darbt hart aufgrund vieler Widrigkeiten, die der Alltag für ihn allerorten und jederzeit bereithält. Die Familie gewährt den sozialen Schutz, den (öffentliche) Gesellschaft und Staat nicht leisten. Sie bietet materielle Solidarität und Hilfe sowie seelische Geborgenheit. Der Dokumentarfilm „Tough Bond“ von Austin Peck und Anneliese Vandenberg zeigt, was mit Kindern und Jugendlichen geschieht, wenn dieses soziale Hilfs- und Beistandssystem aufgrund von Armut, Krankheit oder anderen Unglücksfällen verloren geht. Am Beispiel von kenianischen Straßenkindern wird erzählt, wie junge Gestrandete ihr Leben nur noch mit Hilfe einer Droge glauben bewältigen zu können.
Der Film ist hart, zeigt den täglichen Teufelskreis von Armut, Haltlosigkeit und Verelendung auf den Straßen und Müllhalden der Städte, aus denen es kaum ein Entrinnen zu geben scheint. Anhand dreier Schicksale werden Leidensgeschichten aus Isiolo, Meru und Nairobi erzählt. Zu Beginn und Ende, als Prolog und Epilog des Films, wird im Kontrast zu den letalen Straßenschicksalen eine Welt skizziert, in der es zwar auch bitterarm und kärglich zugeht, in der aber die Schutzmechanismen der Familie trotz aller Widrigkeiten noch zu greifen scheinen.
Man sieht glückliche Turkana-Kinder in einer kargen, verdorrten Einöde am Ufer des Turkana-Sees im naiven Spiel unbedarft ihren Tag verbringen. Das jedenfalls suggerieren die Bilder, in denen sich die halbnackten Körper der Kinder im brennenden Gegenlicht der afrikanischen Sonne wie Schattenspiele balgen. Für sie scheint die Hoffnung noch lebendig, auch wenn ihr Vater am Ende des Films seine Armut wegen der ständig zunehmenden Dürre beklagt und das mögliche gemeinsame Verhungern wie ein drohendes Menetekel für die Zukunft nicht ausschließt.
Die anderen Kinder des Films leben auf der Straße, nennen sich selbst „Survivors“ (Überlebende). Eine Plastikflasche wird zu einem Drittel oder weniger mit Klebstoff gefüllt und zwischen Oberlippe und Nase eingeklemmt. Mit dieser auf Dauer sehr zerstörerischen Droge schnüffeln sich die Straßenkinder durch den Tag. Sie zersetzt ihr Hirn, andere innere Organe und ist krebserregend. Das wissen sie nicht – oder manche schon. Und wenn auch, ihnen ist es egal. Denn dieses Zeug lässt sie Hunger, Kälte und Frustration vergessen. So reinigen sie für ein paar Kenya-Shilling die Straßen, suchen nach Weggeworfenem, das sie vielleicht noch für wenig Geld verkaufen können, oder klauben noch Essbares aus den riesigen Müllhalden am Rande Nairobis. Die meiste Zeit hängen sie jedoch in den stadtnahen Slums herum, geben sich mit Hilfe des eingeatmeten Klebstoff dem Rausch des Vergessens hin.
Klebstoff Schnüffeln als Flucht aus der Armut: Straßenkind in Nairobi
Die beiden amerikanischen Dokumentarfilmer Peck und Vandenberg haben in Monate langer Annäherung an die Kinder ihre Geschichten gesucht. Die intime Nähe zu ihren Protagonisten überrascht. Ein enormes Vertrauensverhältnis muss zuvor von den Filmern aufgebaut worden sein.
Sinbad (16) aus Isiolo hat ein erstaunliches Selbstbewusstsein. Er ist einer der Leitfiguren unter den Straßenkindern. Er unterstützt mit seinem kärglichen Verdienst als Straßenreiniger, den er unregelmäßig als Tagelöhner bezieht, seine Großmutter, die ihn als HIV-Waisen großgezogen hat, und seine Schwester, die auch noch von der Familie übrig geblieben ist. Sinbad sieht sich selber in einer Doppelexistenz. In der Stadt sei er ein Straßenjunge, auf dem Land ein „Farmer Boy“. Er versucht, seiner kärglichen Existenz die Stirn zu bieten, doch hängt an der Schnüffelflasche, wird also voraussichtlich 30 Lebensjahre nicht erreichen.
Das Turkana-Mädchen Akai (17) lebt zusammen mit ihren Mann Peter (20) auf den Straßen Merus und auf einer kleinen Familienfarm des Ehemanns. Mit ihnen erlebt der Zuschauer eine typische Paargeschichte zwischen Illusionen und AIDS-Gefährdung. Auch hier scheinen die Zukunftsperspektiven eher zweifelhaft. Die dritte Episode führt zum Boss einer Street Gang nach Nairobi. Anto (23) hat eine desillusionierende Jugend schon hinter sich und sieht 20 Jähre älter aus als er ist. Ein „Kriegsinvalider“ des Straßenkampfes, der aber trotz erheblicher Schäden an Leib und Seele bisher überlebt hat und die Solidarität unter seinesgleichen rühmt, aber auch modellhaft für eine verlorene Zukunft steht. Er beklagt die Ignoranz der Gesellschaft den Straßenkindern gegenüber und wappnet sich mit eigener Härte.
Anto: ein „Kriegsinvalider“ im Straßenkampf
Die Filmemacher interviewen auch den kenianischen Hersteller des Klebstoffes „Tough Bond“, der den Missbrauch nur halbherzig zugibt, aber doch schätzt, dass ca. 15 Prozent seiner monatlichen Produktion von über 40 tons (also über 6 Tonnen) von den Endabnehmern an die Straßenkinder verhökert werden.
Das Leben der Straßenkinder scheint für einen noch langen Zeitraum unabwendbar, zumal auch die kenianischen Politiker jegliche Verantwortung von sich schieben oder, wie hier im Film, Kenias Vizepräsident Kalonzo, sogar die Existenz von Straßenkindern in Nairobi schlichtweg leugnen. So lässt der Film den Betrachter ohnmächtig, traurig bis wütend zurück, gemahnt unausgesprochen an unser aller Verantwortung und schließt mit dem Hinweis auf die einzig sichtbaren Schutz vor diesem Schicksal: unzerstörte Familien. (hsch)
„Tough Bond“, USA 2012, 83 Min., HDCAM. Regie und Kamera: Austin Peck, Anneliese Vandenberg, Schnitt: Sam Citron, Anneliese Vandenberg, Austin Peck